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Theater + Übersetzung

Einblick in die Arbeit

Verlagsgespräche

Martin Bieri im Gespräch mit Antje Oegel, Nils Tabert, Zeno Stanek

#1: Antje Oegel

Martin Bieri im Gespräch mit Antje Oegel

Der Verlag Henschel Schauspiel bietet mehr als 2000 Werke dramatischer Literatur von über 900 Autor:innen an, darunter zahlreiche und namhafte fremdsprachige, zum Beispiel Dario Fo oder Biljana Srbljanović. Der Verlag ging 1990 aus dem aufgelösten DDR-Kunstverlag Henschel hervor. Die Neugründung des Verlags 1990 erfolgte auf Initiative verschiedener Schriftsteller:innen, darunter Heiner Müller. Heute existiert Henschel Schauspiel als unabhängiges Unternehmen und ist im Besitz von etwa 100 Gesellschafter:innen. Antje Oegel ist Lektorin für Film und Theater bei Henschel. Zuvor führte sie mehrere Jahre eine eigene Theateragentur in New York.

Frau Oegel, wie erleben Sie den internationalen Markt für Gegenwartsdramatik aktuell?

Ich stelle ein großes Interesse von Lektor:innen und Agent:innen an Vernetzung fest. Im Moment passiert weltweit sehr viel in diese Richtung. Entscheidend ist, wie aktiv sich die einzelnen Akteur:innen verhalten. Wir bei Henschel beobachten den Markt aktiv, nutzen unsere Kontakte, suchen das Gespräch mit Intendant:innen und Agent:innen und nicht zuletzt mit den Autor:innen selbst. Und wir reagieren auf Empfehlungen der Übersetzer:innen.

Wo suchen Sie?

Durch seine Geschichte hat Henschel viele Verbindungen nach Osteuropa. Unterdessen spielen die persönlichen Kontakte aber eine viel größere Rolle. Ich selbst bringe vor allem Verbindungen in den angloamerikanischen Raum mit. Der Anteil an internationalen Werken steigt bei uns in letzter Zeit, insgesamt machen sie etwa ein Drittel des Verlagsprogramms aus.

Sie sprechen von Vernetzung, wo findet die statt?

Ein gutes Beispiel ist das Forum für Übersetzung und Theater „Drama Panorama“, das Workshops, Podien und Lesungen zu Fragen der Übersetzungsarbeit im Theater veranstaltet. So bin ich letzter Zeit zum Beispiel in Kontakt mit spanisch- und französischsprachiger Literatur gekommen, die ich vorher noch nicht kannte. Die Welt wird kleiner, der Fokus auf die einzelnen Sprachkreise hebt sich immer mehr auf. Themen und Diskurse verbinden sie. Soeben ist etwa im Neofelis Verlag die schöne Anthologie internationaler queerer Dramatik „Surf durch undefiniertes Gelände“ erschienen.

Sehen Sie gar keine Charakteristika der einzelnen Sprachräume mehr?

Man kann wirklich nicht sagen: „Alle amerikanischen oder englischen Stücke sind well-made und alle deutschen sind Textflächen.“ Jede:r schreibt anders, die Stile ändern sich schnell. Allerdings stelle ich fest, dass sich die Diskurse zum Teil stark unterscheiden. Rassismus, Gender und identitätspolitische Themen werden in den USA anders diskutiert als in Deutschland, viel schärfer. Das äußert sich auch in den Stücken und fängt schon bei der Besetzung an. Selbst wenn ein wichtiges Stück hier nicht gespielt wird, sollte es Teil des Diskurses sein. Jackie Sibblies Drury‘s „Fairview“, 2019 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, wird es in Deutschland vielleicht schwer haben, trotzdem müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie darin über Rassismus gesprochen wird.

Was bedeutet das für deutsche Autor:innen? Kommen sie auf den internationalen Märkten vor?

Einige, ja. Heiner Müller natürlich, und ich glaube, es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt ein Stück von Marius von Mayenburg gespielt wird. Er arbeitet als Autor und Regisseur auf internationalen Bühnen.

Deutsch ist keine Weltsprache, wie kommen deutsche Stücke in die Welt hinaus?

Wir erstellen von uns aus eine englische Leseübersetzung. So vermarkten wir das Stück international bei Agenturen und Theatern. Die jeweiligen Übersetzungen in die nationalen Sprachen erfolgen erst, wenn Interesse an dem Stück besteht. Sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass der deutsche Übersetzerfonds auch Übersetzungen aus dem Deutschen fördert. Das ist wunderbar.

Sprechen wir über Geld. Wie finanzieren Sie Übersetzungen?

Der erwähnte Übersetzerfonds hat verschiedene Förderformate, das ist von enormer Bedeutung. Dort stellen die Übersetzer:innen Anträge, wir unterstützen sie dabei. Darüber hinaus gibt es weitere Stipendien und Fonds, die uns helfen. Ohne solche Bezuschussungen von vielleicht 1000 bis 3000 Euro würde die Vergütung knapp ausfallen. Wir selbst können wenig bezahlen. Für die Übersetzung eines ganzen Stücks geben wir 600 Euro Vorschuss plus 20% der Tantiemen. Davon geht der Vorschuss dann aber wieder ab.

Und wo blicken Sie als nächstes hin? Aus welchem Sprachraum erwarten Sie die nächste Anregung, China vielleicht?

Das ist interessant, was wissen wir aus China? Sehr wenig. Ich habe schon Stücke nach China lizensiert und ich glaube, es wird sehr viel geschrieben dort. Aber alles befindet sich in diesem Raum zwischen Freiheit und Zensur. In Japan finde ich immer wieder interessante Stücke. Ansonsten erwarte ich vor allem aus den beiden Amerikas wichtige Impulse. Die südamerikanische Literatur ist wahnsinnig politisch. Und die Erschütterungen des politischen Gefüges in den USA werden sich sicher in der Kunst und der Dramatik niederschlagen. Ich suche nach Stücken, die mich herausfordern, die ich auf den ersten Blick vielleicht nicht verstehe, aber die mich sozusagen rausschicken in die Welt. 

#2: Nils Tabert

Martin Bieri im Gespräch mit Nils Tabert

Der Rowohlt Theater Verlag ist einer der renommiertesten deutschen Verlage. Er gehört zur Unternehmensgruppe Rowohlt und übergeordnet zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Wichtiger Bestandteil des Programms war schon früh die internationale Gegenwartsdramatik. Rowohlt verfügt zum Beispiel über die Rechte am dramatischen Gesamtwerk von Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Seit 2010 leitet Nils Tabert das in Hamburg beheimatete Haus. Wir haben uns mit ihm über das Übersetzungs-Geschäft unterhalten.

Herr Tabert, welchen Anteil am Verlagsprogramm des Rowohlt Verlags machen Übersetzungen ins Deutsche aus?

Unser Verlag ist traditionell stark der britischen Dramatik verbunden. Sie macht den Hauptteil des nicht-deutschen Portfolios aus. Insgesamt würde ich schätzen: 40% des Gesamtprogramms sind fremdsprachig, 60% deutsch. Tendenz deutsch steigend. 

Weshalb?

Ungefähr seit der Wiedervereinigung fragen die Theater deutsche Autor:innen stärker nach. Um die Jahrtausendwende eroberten Leute wie Dea Loher, Theresia Walser, Moritz Rinke oder Roland Schimmelpfennig die Bühnen für die Gegenwartsdramatik. Die Theater hatten ein Interesse an enger Zusammenarbeit mit den Schreibenden und gaben ihnen direkte Aufträge. Das geht nun mal besser, wenn es keine Sprachbarriere gibt.

Und wie verkaufen sich deutsch schreibende Autor:innen in andere Sprachräume?

Das Interesse hält sich in Grenzen. Bei Rowohlt hat Sibylle Berg einen gewissen Markt in Ausland. Aber selbst Elfriede Jelinek ist schwierig zu verkaufen, was in ihrem Fall auch daran liegt, dass ihre Texte extrem schwierig zu übersetzen sind.

Wie ist das Geschäft mit den Übersetzungen in Ihrem Verlag organisiert?

Für die Foreign Rights, also die Texte, die wir ins Ausland lizenzieren, haben wir eine zuständige Person, obwohl wir natürlich alle unsere Kontakte spielen lassen. Das deutsche Verlagswesen ist mit den Strukturen im Ausland kaum vergleichbar. In England, den USA und zum Teil in Frankreich haben wir es mit Verlagen und Agenturen zu tun, sonst läuft der Vertrieb aber meist direkt über die Theater. In manchen Fällen leisten immerhin noch das Goethe-Institut oder die Pro Helvetia Vermittlungsarbeit.

Wer betreut die internationalen Autor:innen?

Ihre jeweiligen Lektor:innen. Für Französisch und Englisch haben wir viel Expertise im Verlag. Wir können den Markt selbst beobachten. Manchmal empfehlen uns unsere Autoren wie Dennis Kelly oder Simon Stephens oder die Übersetzer:innen etwas. Besonders im skandinavischen Sprachraum, wo wir uns sprachlich weniger gut orientieren können, sind wir auf solche Einschätzungen angewiesen.

Wie beurteilen Sie die Qualität von Stücken und von Übersetzungen, wenn Ihnen die Ursprungssprache nicht geläufig ist?

Wir verpflichten uns vertraglich, eine vollständige, korrekte Übersetzung zu erstellen. Wir haben einen festen Pool an Übersetzer:innen, mit denen wir zusammenarbeiten. Für den angelsächsischen Raum sind das zehn bis zwölf Leute. Auch in Sprachen, die ich nicht verstehe, lese ich Übersetzung und Original parallel. Wenn ich bei Jon Fosse sehe, dass er ein Wort immer wieder verwendet und das in der Übersetzung nicht so ist oder wenn dort Sätze viel länger sind als bei Fosse, frage ich beim Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel nach. Ganz blind bin ich nur in Sprachen, deren Schrift ich nicht lesen kann. In der Regel sind aber auch die Autor:innen sehr hilfsbereit.

Aus welchen Gründen findet ein internationales Stück überhaupt zu Ihnen? Sehen Sie sich Kritiken oder Publikumszahlen an?

Es ist simpel: Finde ich, finden Kolleg:innen das Stück gut oder nicht. Das ist ziemlich subjektiv. Ausgeschlossen sind Texte in Genres, die dem deutschen Markt fremd sind. Gerade eben lag uns ein Stück eines jungen Autors vor: Gothic, Neoromantik. In England beliebt, in Deutschland hat das Stück kaum Chancen. In den USA werden gerne biographische Texte gespielt, hier nicht. Stücke, die dem Boulevard näher sind, nimmt man manchmal vielleicht aus kommerziellen Gründen, weil man weiß, dass sie funktionieren. Aber wir haben noch nie etwas eingekauft, das wir überhaupt nicht gut fanden. Wichtig ist, ob ein Text universelle Fragen und Figuren anbietet. Simon Stephens‘ Stücke zum Beispiel spielen in Stockport und Manchester, aber verstanden werden sie überall.

Täuschen Sie sich manchmal in Stücken?

Das kommt vor. Ein Klassiker, noch vor meiner Zeit, war Tony Kushner‘s „Angels In America“. Das wollte niemand. Andersrum war es mit Neil LaBute‘s „Bash: Stücke der letzten Tage“. Drei monologische Kurzstücke über das Töten. Das haben alle abgelehnt, wir nicht. Wir haben Peter Zadek als Erstaufführungsregisseur gewinnen können und „Bash“ wurde ein Erfolgsstück. Yasmina Reza‘s „Kunst“, leider nicht bei uns, war hingegen ein klarer Fall: Das hätten alle sofort genommen.

Was haben nicht-deutsche Stücke, was der deutschen Dramatik fehlt?

Geschichten, ausgeprägte Figuren, psychologischer Realismus. Die deutsche Dramatik ist im Moment stark auf Sprache und Themen fixiert. Kein Vorwurf, aber Spannung zu erzeugen ist nicht gerade ihre Stärke. Die englischen und US-amerikanischen Autor:innen sind noch stärker dem Film verpflichtet. Es ist kein Zufall, dass viele für Kino und Theater schreiben. Dieser Transfer kommt hier kaum vor, leider.

Sie bedauern das?

Ja, beide Sparten könnten voneinander profitieren. Aber im deutschen Sprachraum ist die Unterscheidung zwischen U und E, Unterhaltung und Ernst, tief in den Köpfen verankert. Mit Ästhetik hat das nichts zu tun. Wer für die Kamera schreibt, ist eine Fernsehnase, wer für das Theater schreibt, macht Kunst. Dieses sehr deutsche „Entweder-Oder“ lehne ich ab. Ich bin für “Sowohl-Als” auch.

Sprechen wir noch über Geld. Können Sie das Geschäftsmodell für Übersetzungen erläutern?

Im Gegensatz zum Buchmarkt, wo meist pro Seite bezahlt wird, schießen wir eine Pauschale vor. Dafür sind die Übersetzer:innen bei uns höher an den Tantiemen beteiligt als bei Romanen. Wird ein Stück von Alan Ayckbourn im großen Haus gespielt, bringt das den Übersetzer:innen einiges ein. Reich wird allerdings niemand, weshalb nur sehr wenige ausschließlich Theaterstücke übersetzen.

Und aus Sicht des Verlags?

Nicht-deutsche Stücke sind mit einem unternehmerischen Risiko verbunden. Wir bezahlen vorab Lizenzgebühren und die Übersetzung, die Arbeit für die Distribution ist die gleiche wie bei deutschen Stücken. Ab und zu kommt es zu schmerzhaften Verlusten. Aber etwa 80% unserer fremdsprachigen Stücke sind profitabel oder schreiben mindestens eine schwarze Null. Wir kaufen aber auch eher vorsichtig ein. An Übersetzungen deutscher Stück verdienen wir meist wenig. Skandinavien und Frankreich beispielweise sind ordentliche Märkte für deutsche Autor:innen. Aber in anderen Ländern, etwa Osteuropa, wo die Eintrittspreise niedrig sind, sind wir schon zufrieden, wenn für den Verlag eine dreistellige Summe übrigbleibt.

#3: Zeno Stanek

Martin Bieri im Gespräch mit Zeno Stanek

Der Wiener Verlag Kaiser besteht seit 1926 und bietet Theatertexte für den Profi- und den Amateurbereich an. Als Besonderheit führt der Verlag viele Stücke in Dialekt. Geleitet wird der Drei-Personen-Betrieb von dem 51-jährigen Regisseur Zeno Stanek. Nebenher ist er Gründer und Künstlerischer Leiter des Festivals „Hin und Weg – Tage für zeitgenössische Theaterunterhaltung“ in Litschau.

Herr Stanek, wie wichtig sind Übersetzungen als Geschäftszweig für den Kaiser Verlag?

Früher nahmen wir viele Übersetzungen aus dem Osten an, vom Balkan bis zum Baltikum. Das hat abgenommen. Im Moment machen internationale Stücke etwa 20% unseres Programms aus. Deutsche Stücke von uns werden selten in andere Sprachen übersetzt. Dafür müssen Autor:innen entweder jung sein und gerade einen Wettbewerb gewonnen haben, so dass sie eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Oder sie sind prominent. Wie Felix Mitterer, von ihm verkaufen wir viel.

Was interessiert Sie an Stücken aus Osteuropa?

Oft sind solche Stücke emotionale Beschreibungen von Krisen, auf dem Balkan zum Beispiel der noch nicht lange zurückliegende Krieg. Polnische, russische oder lettische Literatur hat eine aus der Tradition gewachsene Lust am Verdrehen der Welt. Sie wagt sich weit ins Absurde vor. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war Ungarn führend, was Boulevard- und Sketchplots angeht.

Sehen Sie noch andere Sprachraum-Spezifika?

In den 90er und den 00er Jahren gingen angloamerikanische Stücke viel weiter als deutsche. Ich denke an Sarah Kane oder Mark Ravenhill. Heute kommt der gute Boulevard aus dem Englischen. Wobei ich, Gott sei Dank, auch im Deutschen jüngst wieder interessante Dialoge gelesen habe. Mir scheint, langsam kommen wir weg von den Textflächen und hin zu einer neuen Dialoglastigkeit, ähnlich wie bei Harold Pinter.

Ihr Verlag bietet auch Stücke für Amateur- und Volkstheater an. Darunter sind viele, die in Dialekt geschrieben sind. Welche Übersetzungsarbeit erfordert dies?

Das Genre hat seine eigenen Formen, Figuren, Sentimentalitäten. Stark vertreten sind zum Beispiel Geschichten aus Tirol. Insgesamt sind sich zwar Bayrisch und Österreichisch relativ nah, weiter nördlich, jenseits der so genannten „Weißwurst-Grenze“, unterscheiden sich die plattdeutschen Dialekte aber deutlich, ganz zu schweigen von den schweizerischen im Westen. Hier sind Übersetzungen essenziell. Interessanterweise werden diese aber oft nicht von Übersetzer:innen geschrieben, sondern entstehen innerhalb der Produktionen selbst. Die Gruppen eigenen sich die Texte sprachlich an. Das erlauben wir meistens, außer es handelt sich um eine Kunstsprache, etwa wie bei Johann Nestroy.

Wie finden internationale Stücke den Weg zu Ihnen?

Unsere Übersetzer:innen bringen sie. Diese Zusammenarbeit zwischen Übersetzung und Autor:innen ist sehr zu empfehlen, um einen Verlag zu finden. Wir arbeiten auch mit den nationalen Kulturinstituten zusammen, dem polnischen zum Beispiel. So durchlaufen die Stücke bereits eine Qualitätskontrolle, bevor sie zu uns gelangen. Zwar muss man an keiner Übersetzung nichts machen, die meisten sind aber bereits geprüft. Zudem erkennt man in einer guten Übersetzung sowohl die Qualität der Übertragung als auch die des Originals. Aber nur, wenn mit einer Affinität zum Theater übersetzt wurde. Ohne geht es nicht, das ist sehr diffizil.

Welche Rolle spielen die ökonomischen Aussichten eines Stücks bei der Auswahl?

Der kommerzielle Aspekt ist wichtig. Übersetzungen sind riskant, wir investieren in die Texte. Natürlich schauen wir, was wo gut läuft. Wenn ein erfolgreiches Stück für den deutschen Sprachraum relevant ist, versuchen wir es zu bekommen – falls wir es uns leisten können, die dickere Geldbörse ist auch bei Verlagen im Vorteil.

Mundart

Martin Bieri im Gespräch mit Andri Beyeler

Dialekt für 3,9 Milliarden Menschen

Der Dramatiker Andri Beyeler schreibt Stücke für alle Generationen in Schweizer Mundart. Bisher sind ein gutes Dutzend Theatertexte von ihm erschienen, die in ähnlich viele Sprachen übersetzt worden sind. Wir haben ihn gefragt, wie es dazu kam. Andri Beyeler wurde 1976 in Schaffhausen geboren. Er war Hausautor am Nationaltheater Mannheim und am Staatstheater Stuttgart. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, z.B. 2004 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis und 2005 mit dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin. 2021 erhielt er für das Stück „Spring doch“ den Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugenddramtikerpreis. „Spring doch“ wird im März 2022 am Kinder- und Jugendtheater Speyer uraufgeführt. Die Uraufführung der gleichnamigen Kinderoper an der Bayrischen Staatsoper München in der Regie von David Bösch konnte bisher pandemiebedingt noch nicht stattfinden. Mit seiner Schwester, der Tänzerin Tina Beyeler, bildet er den Kern der freien Tanz-Theater-Gruppe „Kumpane“. Andri Beyeler hat wiederholt mit dem Interviewer zusammengearbeitet, zuletzt verfassten sie gemeinsam das Fußball-Stück „Geisterspiel“ (UA Theater Winkelwiese Zürich, 2019).

Andri Beyeler, viele Deiner Stücke sind schweizerdeutsch. In welcher Sprache schreibst Du genau?

In Schaffhauser Mundart, die ich als durchschnittliche Schaffhauser Mundart bezeichnen würde. Eine Mischung aus den Ausprägungen des genannten Dialekts einerseits des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin, und andererseits der jeweiligen Herkunftskantonteile meiner Eltern. Namentlich Klettgau, Reiat und Stadt Schaffhausen. Ich bin aber relativ offen. Gefallen mir Wörter aus einem anderen Dialekt, nehme ich sie auf. Ich kann nicht bestimmen, ob sich ein bestimmter Soziolekt in meiner Literatur abbildet. Die Zeit, in der ich schreibe, spiegelt sich eher in den Themen wider als in der Sprache.

Von wie vielen Menschen wird Dein Dialekt gesprochen und von wie vielen wird er verstanden?

Der Kanton Schaffhausen hat gut 80.000 Einwohner:innen. Sehr ähnlich wie ich spricht vielleicht ein Viertel von ihnen. Das hängt aber davon ab, wie eng diese Ähnlichkeitslinie gezogen wird. Ich vermute, es gibt Wörter, die nur in unserer Familie genau so vorkommen. Verständlich wäre meine Sprache theoretisch für die ganze Deutschschweiz sowie den grenznahen Teil Süddeutschlands, d.h. für etwa 7 Millionen Menschen. Praktisch sind es weniger, weil manche es nicht gewohnt sind, meinen Dialekt zu hören oder zu lesen. Auch Menschen, deren Muttersprache nicht Schweizerdeutsch ist, dürften Probleme haben.

Und von wie vielen wird Dein Dialekt geschrieben?

Von vielen, weil wohl ein großer Teil Kurznachrichten-Kommunikation über die Mundart läuft. Literarisch sind es nur eine Handvoll in wenigen Genres: etwa Poetry Slam, Mundartkolumnen, Laientheater. Insgesamt vielleicht ein Dutzend Schriftsteller:innen. Historisch tauchen immer wieder die gleichen Namen auf: Albert Bächtold, Otto Uehlinger. Auch von Ruth Blum gibt es szenische Texte in Mundart.

Die schweizerdeutschen Dialekte haben keine standardisierte Rechtschreibung oder Grammatik. Wie gehst Du vor?

Es gibt ein Schaffhauser Mundartwörterbuch mit einem kleinen Grammatikteil. Aber ich habe meine Regeln weitgehend selbst entwickelt. In der Zusammenarbeit mit meiner Lektorin Michèle Zoller, die meine Prosatexte gegenliest, haben wir dieses Regelwerk verfeinert.

Obwohl Du Mundart schreibst, verbreiten sich Deine Texte auf hochdeutsch, warum?

Der Schweizer Markt ist zu klein für zeitnahe Nachinszenierungen. In Deutschland ist das möglich. Zudem werden Kinder- und Jugendtheaterproduktionen in der Schweiz oft von Freien Gruppen selbst entwickelt. In Deutschland hat sich die Sparte an den festen Häusern etabliert und ist auf ein Repertoire angewiesen. Texte für die Gruppe „Kumpane“ bleiben in Mundart, bis ich sie zu eigenständigen Stücken überarbeite. Das war bei „Mondscheiner (UA Theater Basel, 2009) und zuletzt bei „Spring doch“ so.

Und wie entstehen die Übersetzungen?

Ich schreibe selbst eine Arbeits- oder Gebrauchsübersetzung ins Hochdeutsche. Der Fokus liegt dabei auf der Verständlichkeit. Dieser Text bildet die Grundlage für die Kommunikation mit meinem Verlag, dem Theaterstückverlag. Dieser gibt, wenn er sich für den Text entscheidet, eine Übersetzung in Auftrag. Zur so entstehenden Fassung geben dann sowohl der Verlag als auch ich ein Feedback. Ich habe bisher mit verschiedenen Übersetzer:innen zusammengearbeitet, namentlich mit Martin Frank, Juliane Schwerdtner, Ursula Gessat und Brigitte Korn-Wimmer. Es gibt aber auch einen Übersetzungsprozess innerhalb des Schweizerdeutschen in Form von Dialektanpassungen. Das geschieht meistens direkt in Zusammenarbeit mit den Schauspieler:innen, zum Beispiel mit dem Jugendtheater Altdorf, wo ein Urner Dialekt gesprochen wird.

In der Mundart-Literatur wird vieles am Kriterium der „Authentizität“ gemessen.

Darauf achte ich nicht besonders. Literatur ist von Anfang an eine Kunstsprache. Klang, Rhythmus und Verständlichkeit sind mir wichtiger als die Frage: „Sagt man das wirklich genauso?“. Entscheidend ist auch, ob der Text den Spielenden in den Mund passt. Das ist immer ein Aushandlungsprozess, gerade bei Dialektanpassungen.

Deine Texte sind sprachlich stark formalisiert. Der Sound ist wichtig, Du verwendest Verknappungen, Ellipsen und Wiederholungen. Wie lässt sich dieser besondere Stil ins Hochdeutsche übertragen?

Recht gut. Am heikelsten sind die Auslassungen, weil sie die Bedeutung der nachfolgenden Wörter beeinflussen. Füllwörter wie „noch“ oder „auch“ haben in der Mundart eine stark klangliche, rhythmische Funktion. Im Hochdeutschen sind sie eher Bedeutungsträger. Aber eine Übersetzung sollte ohnehin das Original nicht 1:1 abbilden, sondern ein in sich stimmiges System bilden. Das erfordert eine gewisse Toleranz. Wenn es gelingt, erhält man in gewisser Weise ein zweites, eigenständiges Werk. Das Original erhält eine Facette mehr, es funktioniert auch über sich selbst hinaus.

Was bedeutet „funktionieren“ konkret?

Das ist eine ästhetische Kategorie. Ich meine damit den Sound, den Groove. Findet die Übersetzung eine Sprache, die ein eigenes Gewicht hat, oder klingt sie hölzern? Und: Die Situation muss in der Sprache aufgehen.

Deine Stücke werden nicht nur ins Hochdeutsche übersetzt, sondern auch in vierzehn andere Sprachen, darunter Russisch, Arabisch und Kannada, das in Südindien gesprochen wird. Insgesamt umfassen diese Sprachen etwa 3,9 Milliarden Sprechende. Von einigen Zehntausend zu fast vier Milliarden, wie geht das?

Ich weiß es nicht genau. Das Goethe-Institut hat eine wichtige Rolle gespielt. Manche Übersetzer:innen wie Corinne Müller, die ins Französische übersetzt, kamen von sich aus auf den Verlag zu. Der Regisseur Marcelo Diaz hatte „kick & rush“ bereits auf deutsch inszeniert und wollte das auch auf spanisch tun. Er hat den Text selbst übertragen. Der Autor Jörg Menke-Peitzmeyer hat, wenn ich das richtig im Kopf habe, in der Türkei in Schreibworkshops mit meinen Texten gearbeitet und so gab eines das andere.

Wirken diese Übertragungen auf Dein Schreiben zurück?

Kaum. Viele Übersetzungen verstehe ich nicht oder kann sie nicht einmal lesen, was ein ziemliches Faszinosum ist. Auch an die deutsche Übersetzung denke ich nicht beim Schreiben, das sind zwei verschiedene Schritte. Umgekehrt wirkt das Original in Mundart auf andere Sprachen zurück. Ich arbeite im Dialekt nicht selten mit paraphrasierten, eingearbeiteten Zitaten aus der deutschen oder englischen Popkultur respektive beziehe mich auf solche, ähnlich wie es etwa Ödön von Horváth gemacht hat. Sind diese Zitate nicht als solche erkennbar, kehren sie in umgewandelter Form in ihre Ausgangssprache zurück.

Beim Erfolg Deiner Stücke verbietet sich die Frage eigentlich, dennoch: Warum schreibst Du sie nicht gleich auf hochdeutsch?

Angefangen hat es aus pragmatischen Gründen, weil ich für einen Jugendklub geschrieben habe. Über all die Jahre arbeitet man beim Schreiben an einer Metasprache. Jedes Werk hat seine eigene Sprache und doch sind alle durch einen gemeinsamen Ton verbunden. So bildet sich ein Stil, der sich zwar immer ändert, aber doch etwas wirklich Eigenes darstellt. Also bleibt man dabei. Der Dialekt ist auch Motivation um genau zu sein. Ich mag die deutsche Sprache sehr und lese sie gerne. In meinen Ohren klingt sie cool. Die Mundart nicht, im Gegenteil. Sie ist schnell peinlich. Das zwingt mich, präzise zu schreiben. Der Effekt tritt wohl ein, weil hochdeutsch eben nicht meine Muttersprache ist. Die Mundart kommt mir vor wie mein eigener Garten. Ich bin ein Nischenmensch und meine Sprache ist es nun mal auch.

 

Martin Bieri 

Martin Bieri ist ein Schweizer Schriftsteller, Dramaturg und Journalist. Bieri schreibt Gedichte, Theaterstücke und ist als literarischer Übersetzer tätig. 

 

Komplexe Frankophonie

Über Herausforderungen im Umgang mit Theatertexten aus ehemaligen französischen Kolonien 

von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Der Begriff "Frankophonie" stammt aus dem Jahr 1880 und bezeichnete zunächst die Gesamtheit der Länder und Bevölkerungsgruppen, die auf Französisch kommunizierten. Zu jener Zeit erstreckte sich das französische Kolonialreich über fünf Kontinente. Die weitreichenden Konsequenzen und komplexen Strukturen der Fortschreibung französischer Dominanz in Asien, Nordamerika, der Pazifikregion, der Karibik und in Afrika sollen hier nicht im Detail analysiert werden. Als Herausgeber:innen einer Anthologie, die traditionell der Frankophonie (und ihren Institutionen) verpflichtet ist, können wir jedoch beschreiben, wie dieses Phänomen unsere Arbeit berührt und wie wir damit umgehen.  

Zunächst direkt von der französischen Botschaft in Deutschland finanziert, erschienen in der Reihe SCÈNE bis 2019 alljährlich vier Theatertexte aus Frankreich und einer aus einem frankophonen Land, wie zum Beispiel Belgien und Québec. Seit dem Beginn unserer Tätigkeit fasziniert uns die Diversität der französischsprachigen Welt und ihre komplexe Geschichte. 2016 hatten wir uns entschieden, einen kompletten SCÈNE-Band Autor*innen aus dem frankophonen Subsahara-Raum zu widmen. Es war uns ein besonderes Anliegen, die Verschiedenheit ihrer jeweiligen Theatersprachen und Perspektiven im deutschsprachigen Raum in Übersetzung zu präsentieren. Mit der Veröffentlichung wurde jedoch schnell deutlich, dass die Rezeption der ausgewählten Texte am Stadttheater durch unterschiedliche Faktoren erschwert wurde. Selbstverständlich sind literarische und damit auch Theatertexte stets Flächen, auf die ein Publikum individuell oder kollektiv seine eigenen Anliegen projiziert. Die Fragen, die „unsere“ fünf Autor:innen zum Schreiben veranlasst hatten, der Versuch, die Folgen eines Bürgerkriegs oder die Konsequenzen politischer Gewalt in Worte zu fassen, waren dringend und notwendig – jedoch nicht unbedingt an ein europäisches Publikum gerichtet. 

Theater wählen Texte in Abhängigkeit von ihrer künstlerischen Selbstdefinition und den Bedürfnissen ihres Publikums aus. In unserem Falle wurde dies jedoch durch das Fehlen eines Vergleichskontextes erschwert bzw. durch die Macht virulenter Klischees: Das Individuelle verschwand hinter einer Prototyp-Narration von Bürgerkrieg, Armut etc. Es handelte sich um Texte aus dem Kongo, Guinea, Kamerun und Burkina Faso, Länder, über die man hierzulande (trotz deutscher Kolonialvergangenheit) nicht allzu viel weiß. Da im europäisch geprägten Kanon nur wenig Platz für andere literarische Traditionen ist, werden Texte häufig nur auf der inhaltlichen Ebene wahrgenommen und verfestigen somit Klischee-Bilder. So wurde den Stücken generell ihre Universalität abgesprochen und sie auf eine (wie auch immer geartete) „Authentizität“ reduziert.  

Seit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten hat Frankreich ein Netz von Instituts français aufgebaut, deren kulturpolitische und diplomatische Ausrichtungen einerseits dem Export und der Verbreitung französischer Kultur dienen, andererseits aber auch der Unterstützung von Kulturprojekten vor Ort. In Ländern, in denen es oft keinerlei finanzielle Mittel für künstlerische Produktion oder Ausbildungen gibt, sind diese Institute einer der wenigen verlässlichen Partner für Künstler:innen. Sie stellen Proberäume oder Auftrittsmöglichkeiten zur Verfügung, gewähren Zugang zu ihrer Bibliothek und organisieren im besten Falle sogar eine Art Ausbildung durch Schauspiel- oder Schreibworkshops mit Dozent:innen aus Frankreich oder vom afrikanischen Kontinent. Unterschiedliche aus Paris koordinierte Programme und Maßnahmen ermöglichen und fördern die Entwicklung von Künstler*innen und Autor*innen und können auch ein Sprungbrett für den Export nach Europa darstellen. Sie schaffen einerseits die Rahmenbedingungen für künstlerische Produktion in den betreffenden Ländern, formatieren sie jedoch gleichzeitig gemäß europäischer Erwartungen. 

Autor:innen aus postkolonialen Kontexten unterhalten daher oft widersprüchliche Beziehungen mit den ehemaligen Kolonialmächten. Europa ist mal angestrebtes Ziel, mal notwendige Station auf dem Weg zur Anerkennung, oder auch Sprungbrett für kulturpolitischen Aktivismus im Herkunftsland, um dort wie es der kongolesische Theatermacher Dieudonné Niangouna ausdrückt, « die Situation zu boxen ».  

Oft kommen afrikanische Autor:innen dank eines Stipendiums, auf Einladung eines Theaters oder Festivals oder für eine Schreibresidenz nach Europa (Frankreich), also mit Künstler:innenvisa, die einen mehr oder weniger langen Aufenthalt erlauben. In Frankreich haben unterschiedliche Strukturen (Festivals wie die Francophonies de Limoges, Theater wie das mittlerweile geschlossene Le Tarmac in Paris oder der Radiosender RFI) die offizielle, vom Kultusministerium bestimmte Aufgabe, den Text- und Theaterproduktionen der « Francophonie » ein Dach zu bieten und sie bekannt zu machen. So ist der Begriff auch zum Synonym für ein Netzwerk geworden, das sich auf künstlerische Äußerungen aus den ehemaligen Kolonien spezialisiert hat. Es organisiert ihre Verbreitung und grenzt gleichzeitig ihr Wirkungsgebiet klar ein. Nur wenigen Künstler:innen gelingt der Durchbruch in die kontinentalfranzösische Theaterlandschaft. Meist werden sie das Etikett « frankophon » nicht los und finden sich ausschließlich in auf sie zugeschnittenen Veranstaltungs- und Verbreitungskontexten wieder.  

In Anbetracht der häufig instabilen politischen Kontexte ihrer Heimatländer nutzen viele Künstler:innen die Gelegenheit, sich zumindest zeitweise in Frankreich niederzulassen. Manchmal erlaubt ihnen die (relative) Stabilität eines Lebens in Europa eine Rückkehr in die Heimat, um dort die Theaterlandschaft zu gestalten. Seitdem vor über 20 Jahren der in Brüssel lebende Schauspieler und Regisseur Étienne Minoungou in der burkinischen Hauptstadt Ougadougou das Festival Les Récréatrales gründete, hat er zahlreiche Nachahmer:innen gefunden. Viele Festivals versuchen mittlerweile, die Bedürfnisse nach künstlerischer Ausbildung, einem Anschluss an zeitgenössische Theaterformen und dem Kontakt mit der Bevölkerung und ihrem sozio-politischen Kontext miteinander zu verbinden (z.B. L’Univers des mots in Conakry, Les Praticables in Bamako, aber auch Initiativen in Bénin und in Togo). 

Die Frage des europäischen (und damit kolonialen oder neokolonialen) Einflusses auf Texte aus afrikanischen Ländern stellt sich in allen Etappen des künstlerischen Schöpfungsprozesses: Welche literarischen Einflüsse haben die Autor:innen verarbeitet, welche Ausbildungen haben sie genossen? Für welche Strukturen haben sie geschrieben? Hinter all diesen Fragen steht eine entscheidende andere: An welches Publikum wenden sie sich? 

Hinzukommt, dass zwischen den fünf frankophonen Kontinenten fruchtbare Netzwerke entstanden sind: So treffen im Rahmen des ursprünglich in Montréal entstandenen Festivals Jamais Lu internationale Autor:innen zusammen – und auch an renommierten Schreibresidenz-Orten wie der Chartreuse bei Avignon sitzen quebecer, belgische, luxemburger Autor:innen am selben Abendessentisch wie ihre Kolleg:innen aus Kamerun, Togo oder Kongo-Brazzaville – und häufig ergeben sich dadurch Austausch und Kooperationen.  

Die unterschiedlichen Grade dieser Internationalisierung wollen wir kurz an drei Autoren veranschaulichen: Der in Brazzaville geborene Totaltheatermacher Dieudonné Niangouna lässt sich aus dem europäischen Kulturleben nicht mehr wegdenken (2013 artiste associé beim Festival d’Avignon, dann am Frankfurter Mousonturm und schließlich Gastregisseur am Berliner Ensemble). Er pendelt seit Jahren zwischen Europa und dem afrikanischen Kontinent und initiierte in zahlreichen Ländern Workshops und Ausbildungsprogramme. Mit seiner überbordenden, aus Mythen, Literatur und Popkultur gespeisten Erzählform ist er in Frankreich längst als Autor (ohne frankophones Etikett) anerkannt.   

Im Gegensatz dazu schreibt der zwischen Brüssel und Kigali lebende Ruander Dorcy Rugamba eindeutig für ein afrikanisches Publikum. Sein Stück « Bloody Niggers », das er selbst in verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen Besetzungen inszeniert hat, klagt Korruption, Fatalismus und Opfermentalität auf dem Kontinent an. Im Gegensatz zu Kolleg:innen, deren Arbeiten mit der Ambition entstehen, später in Europa gezeigt zu werden, steht Rugamba der Rezeption seiner Werke in einem westlichen Kontext kritisch gegenüber.  

Ein Ausnahmeautor, der mit derartigen Kontextverwirrungen virtuos zu spielen vermag, ist der in Togo geborene und mittlerweile in Paris lebende Gustave Akapo. 2004 nahm er an dem frankophonen Residenzprogramms « écritures vagabondes » in Syrien teil, und offensichtlich bereicherte ihn der kulturelle und geografische Umweg: Als einer der ersten französischsprachigen afrikanischen Dramatiker fügte er der frontalen Beziehung zwischen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und dem ehemals kolonisierten Gebiet eine dritte Ebene hinzu. In dem Stück « Die Aleppo-Beule » erzählt er vom Aufenthalt eines jungen Afrikaners in einem totalitären Staat im Nahen Osten, währenddessen er abwechselnd rassistisch ausgegrenzt, als reicher Mann aus dem Westen betrachtet oder aufgrund seiner Familiengeschichte kulturell ausgenutzt wird.  

Wie jedoch geht man als Übersetzer:in mit all der beschriebenen Komplexität um? Bei der Arbeit an postkolonialen Theatertexten treten dieselben Probleme auf wie bei der Übersetzung jedes beliebigen Textes – jedoch noch potenziert. Theaterübersetzung ist generell ein Balanceakt: zwischen dem Ausmaß an „Fremdheit“, das „unsere“ Bühnentradition noch produktiv ertragen kann und einer gewaltsamen Eingemeindung und Nivellierung von Besonderheiten sprachlicher und inhaltlicher Art – zugunsten einer allgemein zugänglichen „Universalität“. Außerdem gilt es stets die Kluft zwischen dem literarischen Theatertext und der Normsprache zu ermessen, um einschätzen zu können, wie eigen oder geformt seine spezifische Sprache ist. Bei Stücken aus der Frankophonie stellt sich jedoch die Frage, was denn die Norm eigentlich ist. Für eine franko-französische Leser:innenschaft sind die Texte von Aristide Tarnagda z.B. voller ungewohnter poetischer Bilder und origineller grammatikalischer Konstruktionen, während Zuschauer:innen und Leser:innen aus Burkina Faso den Text womöglich als banaler und alltagssprachlicher wahrnehmen. So kommt es schnell zu einer ungewollten Exotisierung.  

Als wir begannen, außereuropäische frankophone Texte übersetzen zu lassen und zu publizieren, lag unser Augenmerk auf der Form, dem Klang und dem künstlerischen Zugriff. So übertrug der Dramatiker Claudius Lünstedt auf unsere Einladung Hakim Bahs « Auf dem Rasen »– und zwar aus einer künstlerischen Verwandtschaft heraus: Beide Autoren bedienen sich sprachlicher Verknappungen, häufig auch als Mittel der Verdeutlichung von Repression und Gewalt.  

Übersetzung bedeutet jedoch stets auch Kontextverschiebung. Texte werden nicht nur im Ausgangskontext rezipiert, sondern eben auch im Kontext der aktuell virulenten Debatten in der Zielkultur. Damit muss sich eine Publikation wie SCÈNE – und auch unsere eigene übersetzerische Praxis – Fragen nach Legitimität und Repräsentation stellen. Allerdings lässt sich nur schwer beantworten, welche Qualifikation zum Übertragen von Theatertexten aus dem postkolonialen frankophonen Raum notwendig ist. Die Zugehörigkeit zu oder das Verständnis für einen kulturellen oder politischen Kontext alleine reichen leider nicht aus. Außerdem wäre es eine gefährliche essentialistische Vorstellung, wenn nur ein:e afrikanische:r (oder afrodiasporische:r) Übersetzer:in eine:n afrikanische:n Autor:in übersetzen könnte. Zugänge dafür müssen jedoch auf jeden Fall geschaffen werden. 

„Ganz richtig machen“ kann man hier vermutlich nichts – besonders, da viele Texte auch noch andere Probleme mit sich bringen. So stammt ein Großteil der erfolgreichen frankophonen westafrikanischen Dramatik von männlichen Autoren (auch die Festivalleitungen und die prägenden Regiepersönlichkeiten sind überwiegend männlich), und viele Texte aus der Subsahara arbeiten mit sexuellen Stereotypen und Gewaltfantasien.  

Bei unserer jüngsten SCÈNE-Ausgabe zogen wir eine externe diskriminierungssensible Lektorin hinzu. Die Diskussion mit ihr half uns zwar dabei, Entscheidungen zu treffen, die sich bewusst mit der in Sprache und Texten enthaltenen Gewalt auseinandersetzten – doch ließ sich kein übersetzerisches Patentrezept finden, das auch künstlerisch interessant gewesen wäre. 

Nach wie vor werden nur wenige Texte aus afrikanischen Ländern an deutschen Stadttheatern gespielt. Einerseits machen Besetzungsfragen Angst, andererseits ist immer noch nicht durchgedrungen, dass die Stücke durchaus eine universelle künstlerische Dimension besitzen und anders als essentialisierend gelesen werden können.  

Generell ist die Überführung von Stücken aus anderen Kontexten in den deutschen Theaterapparat keine einfache Sache: Ein Problem sind die Kriterien der Theaterverlage, die sich dreimal überlegen, ob die Werke formal und inhaltlich relevant und zugleich auch verkäuflich genug sind, um das wirtschaftliche Risiko einzugehen, sie zu vertreten. 

Was wir vielleicht nicht übersetzerisch lösen konnten, haben wir zumindest strukturell ein wenig weitergebracht: Es geht natürlich auch um Ressourcenverteilung. Und daher ist es den beteiligten Kultureinrichtungen extrem hoch anzurechnen, dass sie sich für die kommenden Ausgaben von SCÈNE auf einen Deal eingelassen haben: Neben jeweils einer „nationalen“ Textproduktion fördern unsere Partner:innen aus Frankreich, der Schweiz, Belgien und Québec auch die Übersetzung von Texten aus Ländern der Frankophonie, für die es sonst keine Finanzierung gegeben hätte. So konnten wir in unserem jüngsten Band auch Stücke aus Ruanda, dem Libanon und Haiti präsentieren. Natürlich sagt dies noch nichts über unseren Umgang mit ihnen aus, doch zeigt es deutlich, dass auch die postkolonialen Institutionen durchaus mit der Zeit gehen.

Gendern

Gendern auf der Bühne: Wie macht ihr das?  Interview mit Lisa Wegener (Übersetzerin aus dem Französischen, Englischen und Niederländischen), Henrieke Markert (Übersetzerin aus dem Italienischen und Englischen) und Paul Spittler (Theaterregisseur) im Gespräch mit Corinna Popp (Übersetzerin aus dem Französischen und Dramaturgin).

CORINNA POPP: Wie oft kommt es vor, dass ihr euch in eurer Arbeit mit dem Thema Gendern beschäftigt und in welchem Kontext? Mündlich oder schriftlich? Ist Gendern im Theater mehr Thema als woanders?   

PAUL SPITTLER: Als Regisseur begegnet es mir häufig, auch weil das zu meiner Arbeit dazugehört, binäre Rollenarchetypen auf den Bühnen kritisch zu befragen. Bisher hatte ich das Glück, bei Gender-Themen immer Ur- oder Erstaufführungen zu machen, bei denen es eingeschrieben war. Jetzt werde ich das erste Mal mit Shakespeare zu tun haben, „Was ihr wollt“. Da ist es eigentlich auch eingeschrieben, es geht total um dieses Geschlechterspiel, und gleichzeitig ist es gefangen in einem binären Mann-Frau-Stereotypen-Archetypen-Problem-Zirkel. Und zum zweiten Teil der Frage: Ich glaube schon, dass das Theater ein Katalysator für solche Fragen ist und sich aufgrund seiner „Blasigkeit“ damit anders und intensiver auseinandersetzt als vielleicht das Bank- oder Versicherungswesen ...

HENRIEKE MARKERT. Als Übersetzer:in hat man ja eine andere Rolle, auch wenn man natürlich Dinge proaktiv vorschlagen kann. Aber erstmal kommt es darauf an, was die Intention eines Textes ist, welche Haltung ein Text hat und die Figuren. Was mir konkret begegnet, was auf der Textebene tatsächlich eine Fragestellung ist, sind nicht-binäre Pronomen oder nicht-binäre Sprache. Da ist das Experimentierfeld groß, da stellt sich mir die Frage, was mache ich damit. 

CP: Gibt es da für dich Unterschiede, wenn du aus dem Englischen oder aus dem Italienischen übersetzt?

HM: In Italien ist der Diskurs nicht so weit, Gendern ist noch nicht so ein großes Thema wie in Deutschland. Es gibt Autor:innen, die sich damit beschäftigen oder auch trans* oder nicht-binäre Figuren auf die Bühne bringen, aber man muss wissen, dass die Struktur des Italienischen ein bisschen benachteiligt ist, weil das grammatische Geschlecht sehr viele Satzelemente beeinflusst. Dadurch ist es noch schwieriger als im Deutschen - wo es auch schon schwierig ist mit den Personalpronomen - das heißt, es wird kaum gegendert außer in sehr progressiven oder aktivistischen Kreisen. Ich habe ein Stück aus dem Italienischen übersetzt über eine nicht-binäre Person, die aber in drei Rollenzuschreibungen (Mann, Frau, Kind) dargestellt wurde, und da haben die zwei Autor:innen für das Kind auch das generische Maskulinum ("il bambino") benutzt, d.h. nicht mal die haben gegendert. Allerdings waren sie ganz froh über die Möglichkeit im Deutschen, dass zumindest das Kind in einer sprachlich neutralen Form dargestellt werden konnte.  

LISA WEGENER: Mir begegnet es an unterschiedlichen Stellen. In der Übersetzung von Drama als Vorlage für eine Inszenierung auf andere Art als bei Übertiteln, wo kaum Platz ist, zu gendern. In Dramentexten ist klar, wenn es ein zeitgenössisches Stück ist und die Figuren sind mehr oder weniger aktivistisch oder diskursnah, dann gendere ich. Aber das ist natürlich abhängig von der Figur, dem Kontext, der Sprachhandlung, dem Konflikt. Und auch davon, was im Original steht, man kann das nicht immer losgelöst begreifen. Und natürlich sind die Diskurse unterschiedlich: Im Gegensatz zum Englischen, das das generische Maskulinum zwar hat, aber einem nicht überall ins Gesicht schlägt, ist das Französische total die gegenderte Sprache und Niederländisch ist eher eine Mischform. Im Deutschen muss ich den Diskurs mitdenken und die Figur gendern lassen, wenn sie das gewisse Vorwissen hat und die Einstellung dazu vermittelt. Es gibt auch Fälle - ich habe jetzt das Stück, „Beautiful Thing“ von Jonathan Harvey neu übersetzt - bei dem das Gegenteil gefragt war, also nicht zu gendern oder irgendeine Geschlechtsidentität anzudeuten. Das ist wieder das andere Extrem, das ist nicht immer einfach.

CP: Kannst du genauer erklären, was das heißt - gerade nicht zu gendern? 

LW: Naja, die deutsche Sprache ist ja gegendert, wir machen Geschlechtszuschreibungen, und das nicht nur über das Genus-System, sondern auch über Schimpfwörter zum Beispiel. In diesem Fall war das ein Jugendstück, und die motzen sich die ganze Zeit an, und wenn die Geschlechtsidentität fluide bleiben soll, muss ich natürlich gucken, was gibt es denn für geschlechtsneutrale Schimpfwörter? Erstmal sind mir nur Wörter eingefallen wie Bengel, Rotzlöffel oder Miststück, die männlich oder weiblich assoziiert sind.

HM: Manchmal ist es ja genau das, was man sichtbar machen will, aber oft passiert das Gendern, gerade bei dem Beispiel mit den Schimpfwörtern, eher unbewusst. Und dann ist es halt total gut, das zu hinterfragen.

CP: Ihr habt jetzt alle gesagt, dass die Frage, gendere ich oder nicht, mit dem Plot des Stückes zusammenhängt. Heißt das, dass ihr noch nicht in einem Stück gegendert habt, wenn es nicht zur Erzählung gehört hat?

LW: Also ein Stück, das eine naturalistische Diskussion, einen Konflikt abbilden will, wird sich natürlich einer Sprache bedienen, die wir so in der Gesellschaft antreffen. Wenn ich eine junge, aktivistische Theaterautorin habe, zum Beispiel Ella Hickson (The Writer, u.a.), deren Protagonistin versucht, sich durchzusetzen gegen eine autoritäre männliche Instanz, dann lass ich die natürlich gendern. Aber jetzt übersetze ich gerade ein Stück, das in den 60er Jahren in der DDR spielt. Da kann ich die Figuren nicht gendern lassen, weil das extrem anachronistisch wirken würde. Das würde bei der Regie liegen zu sagen, ok ich bring das jetzt rein, so einen Anachronismus, weil ich das thematisieren will. 

HM: Man kann natürlich in den Regieanweisungen gendern, wenn man will.

CP: Als Anweisung ans Ensemble, sozusagen?

HM: Ja, also das steht einem als Übersetzer:in ja offen. Aber in der Figurenrede, die man in dramatischen Texten fast immer hat, hängt es einfach von der Figur ab, und so ist es in der Prosa eigentlich auch, da hängt es auch von der Erzählerin oder dem Erzähler ab.

PS: Ich würde mich tatsächlich total freuen, Henrieke, wenn es mal in Übersetzungen die Möglichkeit für uns Regieteams gäbe, dass der Text selbst oder die Übersetzung das vorschlägt! Gerade, wenn wir von nonbinären Protagonist:innen sprechen - die kommen im Theater auch in zeitgenössischen Texten selten genug vor. Von daher finde ich das einen super Einfall. Bei “Was ihr wollt” wollen wir das Zwillingspaar Viola und Sebastian von einer Person spielen lassen und werden dieses Potenzial ausschöpfen, dieses Verwechslungs-/Mit-dem-Geschlecht-Spiel, dieses Maskenspiel, vermeintlich komödiantisch, aber doch super existenziell – wer überlebt in welchem Kontext mit welchem Geschlecht, oder wer kommt wie mit welchem Geschlecht besser durch die Gesellschaft, wird akzeptiert und anerkannt? Da versuchen wir die Farce anzusetzen und nicht in diesen Stereotypen, wie es bei Shakespeare leider in jeder Übersetzung stattfindet, die ich bisher gelesen habe, ob Thomas Brasch oder ältere, Wieland, Tieck oder Günther, es gibt auch eine, die Angela Schanelec für die Jürgen-Gosch-Inszenierung gemacht hat. Es bleibt in diesen Binaritäten verhaftet. Wir versuchen jetzt ein bisschen den Regietrick, zu fragen, welche Leerstellen haben diese Texte, die 600 Jahre alt sind - aber das ist bei aktuellen Texten nicht anders - wenn wir versuchen, das binäre System in Frage zu stellen. Weil vermeintlich hat es dann eben mit der Handlung nichts zu tun – wo wir wieder bei dem Thema sind: Muss es der Plot mitbringen oder können wir uns auch in einem Text über die Finanzkrise damit auseinandersetzen, dass es verschiedene Geschlechtlichkeiten geben muss, die sich anders, oder auch komplett heteronorm (un-)erwartbar, dazu verhalten.

CP: Wisst ihr schon,für welche Übersetzung von „Was ihr wollt“ ihr euch entscheidet,und ob ihr an den Pronomen zum Beispiel was ändert? 

PS: Wahrscheinlich die Brasch-Übersetzung, weil sie im Herangehen an die Komik in unseren Augen am radikalsten und frivolsten ist, und wir nehmen uns aber die Freiheit, solche Gender-Verweise jenseits der Binarität einzustreuen. Man muss halt vorsichtig sein, gerade bei so einem Text, der sich nur mit diesem Archetypischen von “was ist männlich, was ist weiblich” auseinandersetzt und darauf die ganze Komik aufbaut, dann quasi mit einer Leerstelle zu kommen... Die ganzen Witze funktionieren halt nicht. Also die Witze funktionieren sowieso nicht, das ist wirklich schwer zu ertragen, was teilweise für lustig empfunden wird. Und gleichzeitig steht dieses Stück ungebrochen auf den Spielplänen und es findet ja überall, zumindest bei jüngeren Teams, dann meistens seine queer-feministische, pop-philosophische Übersetzung, sowohl in den Ästhetiken als in der Spielform. Man muss aufpassen, dass man das Gendern nicht einem Abo-Publikum so als Scherz vor den Latz knallt,  sondern dass man das Thema des Stücks ernst nimmt und versucht, eine clevere und trotzdem humorvolle Umsetzung zu finden.

LW: Was ich noch ganz wichtig finde und worüber ich gerne rede, jenseits der Frage nach den Pronomen: In der zweiten Frauenbewegung gab es den Ansatz der nicht-sexistischen Sprache, und ich finde das ist quasi die Basis: So zu übersetzen, so zu schreiben, dass es eben nicht diskriminiert. Egal wieviel da dekonstruiert wird im Original. Das gehört für mich zum queeren Übersetzen dazu, weil das natürlich ein Bewusstsein schafft. Und weil das im Prinzip verhindern hilft, dass unbewusste Geschlechtsstereotype produziert werden. Und das ist, was oft vergessen wird, in dieser ganzen Diskussion “wie übersetze ich denn "they” jetzt richtig” oder wie kann ich Nonbinarität verkörpern oder in der Sprache damit spielen. 

HM: Kannst du dafür ein Beispiel nennen? Sind das einfach die Figuren, , oder Redewendungen oder sowas? 

LW: Ich hab mal einen Thriller übersetzt, da hat ein Haus gebrannt und es sollten “the doctor and the nurse” gerufen werden. Das ist ein Beispiel, so ist Sprache halt gelagert und ist geprägt durch Sprecher:innen. 

CP: Was hattest du geschrieben? 

LW: Ich hab natürlich eine Ärztin und ein Pfleger geschrieben, aber man hätte auch eine Ärztin und eine Krankenschwester oder einen Arzt und einen Pfleger nehmen können. 

HM: Als Übersetzer:in hat man erstmal nicht die Entscheidungsgewalt, aber dann gibt es doch so Stellschrauben, die wir uns bewusst machen können und sollten. Und eben vielleicht auch Dinge vorschlagen. Also das sag ich auch zu mir selbst, weil es doch oft vergessen wird.  

CP: Erzählt mal aus eurer Arbeit von einem konkreten Beispiel, bei dem ihr mit Genderfragen konfrontiert wart, was euer Übersetzungsvorschlag war und ob er angenommen wurde von Dramaturgie, Ensemble und Regie.  

PS: Den einzigen Text, den ich übersetzt habe, aus dem Englischen ins Deutsche, war im Zuge einer eigenen Regiearbeit, den Text „She He Me" von Raphael Amahl Khouri, der in der Anthologie „Surf durch undefiniertes Gelände“ erstveröffentlicht wurde. Der Text lag schon in einer deutschen Übersetzung vor und ich fand ihn ganz schwierig. Die Protagonist:innen sind drei Menschen aus dem arabischen Raum, Algerien, Jordanien und Libanon. Es sind zwei Transfiguren und eine nonbinäre Person, die aber in der ersten Übersetzung komplett als schwuler Mann dargestellt wurde. Es war zu der Zeit auch schwierig, glaube ich. Da dachte ich, das würde ich gern selbst übersetzen, zusammen mit meiner Dramaturgin Mascha Mölkner. Das war 2018, da war mir das Gender-Sternchen noch komplett neu und es war so eine Freude, alles mit Sternchen zu versehen, alleine schon für die Optik, das passte so zu diesem performativen Charakter, den Raphael beschrieben hat, und überall die Möglichkeit offen zu lassen, auch wenn ganz klar zum Beispiel über Polizisten gesprochen wird, trotzdem das Sternchen zu machen weil - who knows - wenn das Stück nachgespielt wird, wie die Leute damit umgehen wollen? Das geht, Henrieke, so in die Richtung, den Vorschlag zu machen, jegliche Personalien in diesem Stück offen zu halten, in den Regieanweisungen und auch in den Rollenbezeichnungen.

CP: Habt ihr auf der Bühne das Sternchen auch mitgesprochen? Polizist:innen?

PS: Wenn es in der wörtlichen Rede stattfand, ja, es kam auf den Kontext an. Also Randa als Transfrau hat in dem Stück überhaupt kein Geheimnis, sie sieht das eher als Auftrag, sich als Transfrau zu outen, und sagt ganz klar, ich bin eine Frau. Ich führe weibliche Pronomen und möchte mit diesen angesprochen werden. Bei Rok, dem Transmann, dem sind sehr männliche Stereotype eingeschrieben, großmaulig, ein bisschen besserwisserisch und so weiter, da haben wir es auch nicht verwendet, weil es die Integrität der Figuren irgendwie verraten hätte. Bei Omar, der nonbinären Interperson, war es sehr viel mehr ein Thema, auch für den Spieler, sich damit auseinanderzusetzen.

LW: Ich habe gerade ein Stück übersetzt von Taylor Mac, eine nonbinäre Ikone in den USA, über eine nonbinäre jugendliche Personund ihre Mutter. Zusammen erfinden sie eine neue Welt, die sie von andro-gendernden Wörtern, Sprachphänomen und Verhaltensweisen befreien. Auf Englisch wird ein etwas veraltetes nonbinäres Pronomen eingeführt, „hir“, und ich hab das mit „xier“ übersetzt, was eigentlich schon wieder veraltet ist und ein bisschen nerdy. Aber daher gut passte, weil die Mutter dem Kriegsheimkehrer, dem Cis-Sohn erklären muss, dass jetzt alles anders ist, dass wir jetzt queer sind und dass wir jetzt nonbinäre Pronomen benutzen usw. Und da hab ich überlegt: Mach ich jetzt „xier“ oder nehm ich „dey“. „Dey“ etabliert sich gerade als Eindeutschung von „they“, und um der Community einen Gefallen zu tun, hätte ich sagen können, wir ziehen das nicht noch mal ins Lächerliche auf der Bühne, indem wir „xier“ einführen und das auch noch durchdeklinieren, was im Deutschen ein Krampf ist mit xier und xiesem und xiem usw, sondern wir nehmen „dey“, was sich hervorragend deklinieren lässt und versuchen damit, diese neue Form als als Normalität einzuführen.

Und ich habe dann doch xier genommen, weil es für den Slapstick-Moment wichtig war, und habe ein Vorwort geschrieben, das dem Regieteam „dey“ als zweite Möglichkeit ans Herz legt. Der Dramaturg der Produktion hat dann meine etwas entschärfte Deklination noch mal verschärft und das extrem durchdekliniert, die Spielerin auf der Bühne hatte extrem Probleme, das zu sprechen. Das bildet die Wirklichkeit zwar auch gut ab, also dass gewisse Generationen sich schwertun mit dem Gendern und dann noch die Neopronomen obendrauf, aber damit bleibt es halt auch Slapstick und wird nicht als neue Normalität eingeführt.

CP: Und abgesehen von den Pronomen, benutzt du zum Beispiel in so einem Stück noch „jeder“ oder „keiner“ oder „man“?

LW: Genau das ist das Problem. Das meine ich, also nichtdiskriminierende Sprache oder Sprache, die keine Zuschreibungen von Geschlechtsidentitäten vornimmt, da versuche ich das zu vermeiden und da gibt es natürlich Formen, die mehr oder weniger veraltet sind, wie mensch oder jemensch, als Alternative für „man“ und „jemand“ und das kann man in diesem Stück, dieser Parodie, auf die Spitze treiben, aber ich versuche das zu umgehen. Ich versuche auch, „man“ zu umgehen. Aber wenn du im Original eine naturalistische Sprache hast und die Übersetzung das anstrebt, dann musst du das zu einem gewissen Grad abbilden, was in der Gesellschaft gesprochen wird und im Fernsehen, in Hashtags, in der Familie usw. Aber wenn ich gendern kann und es handelt sich nicht um historische Personen oder Kontexte, dann mache ich das. Auch in Übertiteln.Zum Beispiel hatte ich ein Stück, da ging es um schwarze Aktivist:innen, die sich im Afrikanischen Viertel in Berlin dafür einsetzen, dass kolonialistische Straßennamen entfernt werden. Da gab es die Kolonialisten oder die „Kolonialherren“, wie sie ja auch heißen im Deutschen, die hab ich nicht gegendert. Weil du in diesem historischen Kontext davon ausgehen kannst, das ist belegt, dass die Gewaltverbrechen von weißen cis Männern begangen wurden. Aber alle Aktivist:innen im Stück habe ich konsequent gegendert. Das ist so ein thematisches Beispiel.

HM: Ich habe bisher nicht festgestellt, dass auf der Bühne gegendert wird, wenn es nicht Thema ist, also wenn es nicht in irgendeiner Form Inhalt des Stückes ist.

CP: Ist das nicht erstaunlich? In allen möglichen anderen Kontexten wird doch in der mündlichen Sprache gegendert, bei einem offiziellen Diskurs. Mir kommt es so vor, als wäre das Theater ein bisschen hinterher oder hat Vorbehalte, dass das Publikum das irgendwie nicht verstehen oder annehmen könnte.

HM: Aber in der Prosa ist es auch nur bedingt so. In Sachtexten schon eher oder bei Artikeln, aber nicht in der Belletristik. Es gibt Leute natürlich, die es machen, aber es ist überhaupt nicht Standard oder Mainstream.

LW: Ich bin dafür, die Sachen auch einzuführen. Gerade als Übersetzer:innen haben wir Handlungsspielraum und können Sachen einführen und sagen okay, ich tradiere halt „dey“, es wird ja benutzt von jüngeren Queers, um zu gucken, wie wird es aufgenommen in der Gesellschaft..

CP: Ich habe gerade einen Monolog übersetzt, der ist auch auf Französisch nicht gegendert und es ist überhaupt nicht Thema, aber wenn da steht, „chacun de nous“, hab ich keine Lust mehr, „jeder von uns“ hinzuschreiben. Jetzt hab ich „wir alle hier“ geschrieben, und bin damit erst mal okay, aber das ist natürlich nur ein Baustein. Ich habe auch versucht, kein „man“ zu verwenden, wenn im Französischen „on“ steht. Das Deutsche hat ja viele eigene Möglichkeiten, beispielsweise Passivkonstruktionen.                                                                           

LW: Ich habe neulich Teamsport geschrieben statt Mannschaftssport, das sind so Sachen, die ich mache. Und dann stand in der Spielfassung doch wieder Mannschaftssport. Klar ist es legitim, dass die Regie oder die Dramaturgie sagt, ich will, dass da Mannschaftssport steht, weil das griffiger ist, lässt sich besser sprechen. Das ist ein banales Beispiel. Aber die Sprechbarkeit darf nicht als Entschuldigung dienen für politische Entscheidungen.

CP: Ja, Mannschaft ist auch ein Wort, über das ich immer stolpere. Das geht irgendwie nicht mehr.

LW: Aber ich hatte noch nie eine Regisseurin, die gesagt hat, ich will nicht, dass gegendert wird. Im Gegenteil.

CP: Also vielleicht muss man es öfter machen, wie Paul gesagt hat, die Leute auf die Idee bringen, weil es sonst oft gar nicht diskutiert wird.

HM: Ich habe mal Essays von Carla Lonzi übersetzt, einer italienischen Feministin der 70er Jahre. Und da haben wir auch nicht gegendert, also die Herausgeber wollten das nicht, weil es ihrer Meinung nach dadurch so einen modernen Anstrich bekommen hätte, den die Texte halt nicht haben. Das war das Argument gegen das Gendern, aber man hätte zumindest das generische Femininum benutzen können. Das hätte auch zu dem Text gepasst. Da würde ich heute anders argumentieren.

 

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