Fundstücke: Neues, Altes + Wiederentdecktes
In der Rubrik FUNDSTÜCKE laden wir Übersetzer:innen, Verleger:innen, Theaterschaffende und Vertreter:innen anderer Berufsgruppen dazu ein, einen Lesetipp oder besondere Erfahrungen aus der Praxis der Theaterübersetzung mit uns und unseren Leser:innen zu teilen.
Fundstück #1 mit Betty Yi-Chun Chen
Dramaturgin und Übersetzerin Betty Yi-Chun Chen über Die Jahre von Mariano Pensotti.
All die Jahre
Neulich bin ich ins Flugzeug gestiegen, seit der Pandemie eine ungewohnte Erfahrung. Zwischen Einreiseanmeldung und Gesundheitserklärung kam mir der Gedanke: Jüngere Passagiere wissen vielleicht gar nicht mehr, dass man vor 2006 seine ganzen Shampoo- oder Cola-Flaschen mit am Bord nehmen konnte. Maßnahmen gegen Terroranschläge haben (natürlich nicht nur) das Fliegen in den letzten 20 Jahren massiv verändert. Und nun Covid. Plötzlich ist die Zeit spürbar.
Mariano Pensottis Los Años / Die Jahre tut in mehrerlei Hinsicht genau das: uns die Zeit spüren lassen. Das Stück erzählt Manuels Leben sowohl im Jahre 2020 als auch im Jahr 2050, parallel auf einer geteilten Bühne. Manuel, ein erfolgreicher Dokumentarregisseur, kehrt nach Argentinien zurück, wo er vor 30 Jahren – im Jahr 2020, unserer Gegenwart – seinen Debütfilm über Raúl, ein allein zurückgelassenes Kind aus armen Verhältnissen, gedreht hat. Der Film hat beider Leben komplett verändert. Manuels Versuch, den erwachsenen Raúl zu finden und ihn erneut zu filmen, scheitert ebenso wie das Bemühen von Manuels Tochter Laura, das Theater ihres Großvaters nach 30 Jahren wieder zu beleben. Mit Parallelen wie dieser und einer Fantasie darüber, wie unsere Zeit in Zukunft erinnert werden könnte, meistert Pensotti die schwierige Aufgabe, sich Zukunftsszenarien vorzustellen. Ein notwendiger Perspektivwechsel, oft mit Humor. „Aus heutiger Sicht schwer verständlich, aber 2020 waren nicht alle Theater überlaufen“, berichtet Laura, die Erzählerin des Stückes.
Tatsächlich tauchen im Stück immer wieder Parallelen auf: kopierte Städte (europäische Bauten wurden in Buenos Aires kopiert) und Strukturen, bis hin zu kopierten Existenzen („Familie ist das Recycling von Trümmern, in der Hoffnung, etwas Neues daraus zu bauen“). Und Theater ist ein geeignetes Medium dafür. Wenn der Film einen Ausschnitt des Lebens festhält, erlaubt das Theater dieses doppelte Bewusstsein. Aber Parallelen bestehen nicht nur aus Wiederholung, sondern auch aus Abkehr, Umkehr und Umgestaltung. Schließlich ist dies ein Stück über Menschen, die versuchen, ein Leben zu erzählen, dabei aber immer damit konfrontiert sind, wie ihr Darstellungsobjekt von den Repräsentationen abweicht. Eine bewegende Reflexion über das Theater und das Jahr 2020, die zu weiteren Erfindungen des Lebens ermutigen.
Betty Yi-Chun Chen
Seit 2013 arbeitet Betty als Dramaturgin mit Künstler:innen aus Taiwan, Hong Kong, Singapur und Deutschland. Ein beständiger Fokus ihrer Arbeit sind die Reibungen zwischen individuellen und kollektiven Narrativen. Als Übersetzerin hat sie zahlreiche Stücke aus dem Deutschen und Englischen ins Chinesische übersetzt, u. a. von Elfriede Jelinek, Dea Loher und René Pollesch.
Fundstück #2 mit Helen Zellweger
Verlegerin Helen Zellweger über Zaun von Ursula Mihelič.
Vom Zug auf die Bühne
Der Zug rauscht durch eine liebliche Landschaft, als ich – wie ich es im Zug gerne tue – einen neuen Bühnentext in die Hand nehme. Er heißt Zaun und wurde von Ursula Mihelič geschrieben.
Der Zaun, Grenzzaun, Gartenzaun. Der Zaun in dieser Groteske ist eine Thujenhecke.
– Ich löse meine Augen kurz vom Papier, um meinen Blick schweifen zu lassen, und da sind sie, die Thujenhecken, rauschen vorbei an meinem Fenster. Jede fein säuberlich geschnitten, dunkelgrün, hoch und praktisch undurchdringbar. Die Trennung zwischen Mein und Dein, Innen und Außen. Ich frage mich, warum Menschen, wie in diesem Stück auch, eine Thujenhecke um sich herum hochziehen. Warum entbinde ich mich freiwillig meines Horizonts?
– Ich will hier keine Inhaltsangabe schreiben. Die können Sie nachlesen. Es ist nur so, das Thema Grenze und Zaun begegnet uns ja inzwischen täglich.
In diesem Text mit abgründigem Humor geht es um das (hochpolitische) Private, das Ich und das Du, das Eingesperrtsein und die Sehnsucht. Die Sehnsucht an einem schöneren Ort auf der anderen Seite zu leben. Vielleicht mit der unsichtbaren Anastasia mit der schönen Stimme?
Packen Sie den Zaun ein. Setzen Sie sich in einen Überlandzug und lassen Sie Ihren Blick und Ihre Gedanken schweifen. Vielleicht fahren Sie ja an einer Thujenhecke vorbei?
Helen Zellweger
Nach ihrer Karriere als Schauspielerin und einem Studium der Translationswissenschaft mit Dissertation zum Thema Bühnenübersetzung gründet Helen Zellweger 2014 gemeinsam mit Georg Hoanzl und Michael Niavarani Schultz & Schirm. Der Bühnen- und jüngst auch Buchverlag ist spezialisiert auf Komödien.
Fundstück #3 mit Konstantin Küspert
Dramatiker und Dramaturg Konstantin Küspert Up There vom Collective Ma'louba (Deutsch von Sandra Hetzl)
Wenn der Autor selbst mit auf der Bühne sitzt, weiß man, jetzt wird's stressig. Und das wird es auch, sowohl für ihn als auch für uns, denn er will ein Stück über eine Theateraufführung in einem Gefängnis schreiben und wir müssen uns in diesem Spiel der Ebenen zurechtfinden. Das kostet einige Mühe, lohnt aber sehr, denn-- aber der Reihe nach. 1991 ist eine Gruppe Frauen in einem syrischen Gefängnis dabei, heimlich Ibsens "Die Frau vom Meer" zu inszenieren - eine in sich schon revolutionäre Tat, die nur durch Glück und Finesse überhaupt gelingen kann. Zusätzliche Brisanz erhält dieser Vorgang dadurch, dass diese Frauen politische Gefangene waren, Mitglieder der kommunistischen Arbeiterpartei Syriens. Über diese historische, subversiv-revolutionäre Theaterinszenierung will nun der Autor und Regisseur Wael Kadour ein Stück schreiben - er hatte zwei der beteiligten Schauspielerinnen erst kürzlich im französischen Exil kennengelernt, und er fragt sich was hätte sein können, wenn er sie früher in Damaskus getroffen hätte. In diesem historischen Konjunktiv entsteht eine weitere Ebene - was wäre, wenn sie damals den Nachfolger von "Die Frau vom Meer", nämlich den "Baumeister Solness", aufgeführt hätten? Wie hätte ihr damaliges Publikum reagiert?
In diesem komplexen Spiel der Zeiten und Möglichkeiten, in denen sich immer wieder Realität und Fiktion mischen, entsteht in der für zeitgenössisches arabischsprachiges Theater typischen Selbstreflektivität ein Stück über Beziehungen und Macht, über das Stigma der ehemaligen Gefangenen und das Leben im Exil. Wer inszeniert, wer spielt? Wer beobachtet wen? Das Publikum, die Leser:innen werden automatisch selbst zu Akteuren in diesem komplexen Netz aus Interdependenzen und Referenzen. Ein enorm kunstvoll gebauter, diffiziler, feingliedriger Theatertext, von Sandra Hetzl behutsam in unsere Sprache übersetzt. Auch wenn er mitunter stressig ist - er lohnt sehr.
Konstantin Küspert
1982 geboren, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in Regensburg und Wien sowie Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Er arbeitet als Autor (auch in Co-Autorschaft mit seiner Frau Annalena), Übersetzer und Dramaturg und lebt in Frankfurt am Main.
Fundstück #4 mit Marie Bues
Regisseurin Marie Bues über Sky every day von Pipsa Lonka und family member von Milja Sarkola
Bei der Anfrage nach einem Fundstück für Theaterübersetzen.de habe ich ersteinmal die Anfrage falsch verstanden- und ging davon aus, dass ich ein noch nicht ins Deutsche übersetztes Theaterstück empfehlen sollte.
Das führte mich in eine spannende Konversation mit der finnischen Autorin E. L: Karhu, die neben eigenen wunderbaren Texten, die bereits von Stefan Moster ins Deutsche übersetzt sind, wie Prinzessin Hamlet, Für meinen Bruder (https://www.rowohlt-theaterverlag.de/theaterstueck/fuer-meinen-bruder-2869) und anderen tollen Stücken, eine Kennerin der finnischen Theaterszene und deren Autor:innen ist.
Zwei Autor:innen empfahl sie mir besonders:
Pipsa Lonka mit ihrem wunderbaren Text “Sky every day” und die Autorin Milja Sarkola mit einem differenzierten und intensiven Blick auf eine ungewöhnliche Familienkonstellation in “family member”. Ich habe beide Autorinnen mit Freude gelesen und will beide Stücke gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit empfehlen:
Pipsa Lonka: “Sky every day”
https://www.tinfo.fi/en/NPfF-Plays/86/Sky-every-day
Pipsa Lonkas Text von 2021, der im Finnischen, Schwedischen, Spanischen, Dänischen, Russischen und Englischen vorliegt, ist noch frei für eine deutsche Übersetzung.
Der Text schafft eine Verbindung von Menschen und Tieren, genauer gesagt Möwen und Menschen, und zeigt beide Spezies in ihren alltäglichen Verhaltensmustern, und im Nicht Verstehen der anderen Spezies. Die literarische Form ist experimentell und vielfältig, arbeitet mit distanziert- filmischen Bildbeschreibungen und dialogischen (Gruppen-) Szenen gleichermaßen. Menschen und Möwen werden entweder nur sachlich beschrieben, oder kommen selbst unkommentiert zu Wort. So experimentiert die Autorin mit dem Blick auf das menschliche oder tierische Subjekt. Ein schonungsloser und doch poetischer Versuch, auf die Co- Existenz von Mensch und Tier zu blicken, und auf die Vergänglichkeit, die uns gemeinsam ist.
Milja Sarkola” family member”
https://www.tinfo.fi/en/NPfF-Plays/9/The-Family-Member
Milja Sarkolas Text “family member” ist ebenfalls noch nicht ins Deutsche übertragen und ein immer noch hochaktueller Text von 2011. In diesem Text bekommt man Einblick in eine intensive Vater Tochter Beziehung in einer Theaterfamilie und deren nicht ausgewogene Work Life Balance.Es geht um falsche Entscheidungen, die Unfähigkeit sich dem Leben und den realen Beziehungen in einer Familie zu stellen und Verantwortung für die Menschen in meinem Umfeld zu übernehmen. Das Stück nutzt unter anderem die Theaterebene um die Beziehung von Vater (berühmter Schauspieler) und Tochter (Ich-Erzählerin des Stückes vor dem Publikum jeweilig augenblicklich stattfindenden Performance) und deren Auseinandersetzung auf persönlicher und politischer Ebene in sehr humorvoller Form szenisch aufzuschlüsseln. Hier werden feministische und queere Diskurse differenziert und aus mehreren Perspektiven untersucht und in persönlichen Geschichten dicht an die Figuren angebunden. Die Form ist eine klassische Entblätterungsdramaturgie: die Konflikte von Vater und Tochter spitzen sich zu, als die Tochter ein eigenes Kind bekommt und mit Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und an die Versäumnisse des Vaters und deren Prägung für ihr Leben erinnert wird, aber durch die eigene Erfahrung des Elternseins in ein neues Bewerten dieser Situationen kommt. All dies wird aus queerer Perspektive und mit einer großen Wärme für alle handelnden Figuren erzählt: Figuren, die kein normatives Familien- und Lebensbild gesucht haben, und sich trotzdem in einem ständigen Ringen um die zwischenmenschlichen Gerechtigkeiten befinden.
Marie Bues
Marie Bues ist Regisseurin und ab der Saison 23/24 Teil der Leitungsgruppe des Schauspielhaus Wien. Sie arbeitet mit verschiedenen Autor:innen längerfristig zusammen, wie zb Thomas Köck und Sivan Ben Yishai. Sie konzentriert sich in ihrer Regiearbeit ausschließlich auf ein Theater der Gegenwart und die Arbeit an neuen Texten. Gemeinsam mit Martina Grohmann hat sie 10 Jahre lang das Theater Rampe in Stuttgart geleitet, und arbeitet aktuell am Schauspiel Köln, Theater Basel und regelmäßig am Schauspiel Hannover.
Fundstück #5 mit Ulrike Syha
Ich übersetze selbst und beschäftige mich immer wieder auch mit der Vermittlung von übersetzten Theatertexten. Ich lese viele übersetzte Texte und spreche regelmäßig mit Theatermacher:innen und Verlagen über die Stoffe. Eigentlich scheinen sich immer alle einig, dass wir uns viel zu sehr auf unseren deutschsprachigen Kontext konzentrieren und auch auf der Bühne vermehrt einen Blick in andere Kultur- und Sprachregionen werfen sollten. Singulär kommt es dann auch dazu, vor allem im Rahmen von Festivals. Aber den Weg auf die Spielpläne finden dann doch verhältnismäßig wenig Stücke aus anderen Ländern Europas – und noch sehr viel weniger aus anderen Weltregionen. Das mag einer unterschwelligen Skepsis gegenüber dem „literarischen Drama“ generell geschuldet sein. Oder der Sorge, andere Theaterkulturen und ihr szenisches Vokabular nicht auf den hiesigen Kontext übertragen oder die Stücke nicht adäquat besetzen zu können. Und natürlich der Angst, mit solchen Projekten schlicht nicht ausreichend Publikum anzusprechen. Ich glaube dennoch, wir sollten uns in diesem Punkt etwas mehr zutrauen.
Sicher, transkultureller Austausch ist nie ganz frei von Missverständnissen. Manche Bedeutungen und Assoziationen gehen vielleicht auf dem Weg verloren und erschließen sich nicht. Manchmal stellen wir vielleicht Zusammenhänge her, die der Ursprungstext gar nicht vorgibt. Dennoch kann es nur eine Bereicherung sein, sich die Geschichten „anderer“ erzählen zu lassen. Geschichten, die (ausnahmsweise) nicht von uns selbst handeln. Der Bezug zu uns wird sich schon herstellen: durch unsere physische Anwesenheit bei der Aufführung und unsere Bereitschaft, uns auf etwas Unvertrautes einzulassen. Wir können eindeutig mehr Welt wagen, als wir es im Augenblick tun.
Ich war einige Jahre als Koordinatorin bei dem Netzwerk EURODRAM aktiv. Aus dieser Zeit sind mir viele großartige Texte in Erinnerung geblieben, von denen ich stellvertretend auf drei hinweisen möchte.
Der kroatische Autor Ivor Martinic entwirft in DRAMA ÜBER MIRJANA UND DIE MENSCHEN UM SIE HERUM (Deutsch: Blazena Radas) ein starkes Frauenporträt in einer Welt, die von Transition geprägt ist; die norwegische Autorin Maria Tryti Vennerød erzählt in DIE PRÜFUNG (Deutsch: Nelly Winterhalder) mit minimalistischen Mitteln von einem Amoklauf an einer Schule; die polnische Autorin Malgorzata Sikorska-Miszczuk nähert sich in DER KOFFER (Deutsch: Andreas Volk) auf behutsame, surreale Weise den Auswirkungen der NS-Verbrechen auf die Jetzt-Zeit.
Alle drei Texte verhandeln Themen, die auch in einem deutschsprachigen Kontext große Relevanz haben. Alle drei Texte sind noch frei zur DSE. Vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern.
Ulrike Syha ist Theaterautorin und übersetzt Dramatik aus dem Englischen. Ihre Stücke wurden mehrfach zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Sie erhielt unter anderem den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts und ist Teil des Vorstands von VTheA (Verband der Theaterautor:innen).