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Theater + Text

Schlaglicht Text

In der Rubrik SCHLAGLICHT TEXT stellen wir Programme, Initiativen und Festivals vor, die sich mit deutschsprachiger Gegenwartsdramatik beschäftigen, und werfen einen Blick auf die Texte, die in ihnen entwickelt oder präsentiert werden.

Vom Blatt zur Bühne

Eine Lesereihe am Rheinischen Landestheater Neuss  

Bettina Erasmy: Der ideale Staat in mir / Olivier Garofalo: Am Ende des Tages / Sergej Gössner: Rotkäppchen und Herr Wolff / Rebekka Kricheldorf: Homo Empathicus

Besonders während der Pandemie sind digitale Formate entstanden, die den Theatertext selbst ins Zentrum rücken: unter anderem die Reihe „Vom Blatt zur Bühne“ am Rheinischen Landestheater Neuss, eine „ergänzende Plattform für Gegenwartsdramatik“, so das Theater.

Das Rheinische Landestheater Neuss unter Intendantin Caroline Stolze und Chefdramaturgin Eva Veiders zeigt immer wieder Produktionen von Gegenwartstexten und leistet sich – im Gegensatz zu vielen deutlich größeren Häusern – mit Olivier Garofalo sogar einen Hausautor, der Teil der Dramaturgie ist.

Das Motto der aktuellen Spielzeit lautet: „Wie schwer ist Empathie?“

Den Impuls für „Vom Blatt zur Bühne“ begründet das Theater auf seiner Homepage wie folgt:

„Spätestens mit Lessing begann die Professionalisierung des Schreibens und das Berufsbild des Dramatikers, beziehungsweise der Dramatikerin, entstand. Lessing, Goethe, Schiller, Brecht, Dürrenmatt - ihnen ist es geglückt, mit ihren Texten nicht nur in die Bücherregale der Menschen, sondern auch in den sogenannten »Kanon« zu gelangen. Soweit, so gut. Aber wie verhält es sich mit der Gegenwartsdramatik, mit Texten, die aktuell entstehen und möglicherweise spannende heutige Erzählformen bedienen und/oder uns mehr meinen, weil sie ganz konkret zu unserer Zeit etwas zu sagen haben? Nur wenige kennen Theaterautor*innen der Gegenwart. Das wollen wir ändern!“

In komprimierten, szenischen Lesungen wird durch Mitglieder des Neusser Ensembles pro Folge jeweils ein Text oder aktuelles Projekt eines oder einer lebenden Theaterautor:in vorgestellt.

Das Publikum kann die Lesung nach Voranmeldung über Zoom verfolgen; im Anschluss an die Lesung gibt es die Möglichkeit, sich über den Text auszutauschen und mit dem/der Autor:in und dem Team ins Gespräch zu kommen.

Mit „Am Ende des Tages“ (Olivier Garofalo), „Rotkäppchen und Herr Wolff“ (Sergej Gößner), „Der ideale Staat in mir“ (Bettina Erasmy) und „Homo Empathicus“ (Rebekka Kricheldorf) wurden bisher vier höchst unterschiedliche Texte vorgestellt.

Garofalo untersucht, wie politische Bewegungen im digitalen Zeitalter ein Eigenleben entwickeln können; Gößner erzählt für ein junges Publikum das Märchen vom Rotkäppchen mit viel Empathie für den bösen Wolf neu; Erasmy hinterfragt Entstehung und Funktionsweisen heutiger Machtstrukturen und ihre digitale Aufbereitung; Kricheldorf entwickelt ein gesellschaftskritisches Panorama für ein wirklich großes Ensemble, was – obwohl von verschiedener Stelle immer wieder eingefordert – in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik leider eher eine Ausnahmeerscheinung ist.

Aktuell sind keine neuen Folgen von „Vom Blatt zur Bühne“ angekündigt.

Die Texte

#1: Olivier Garofalo: Am Ende des Tages

(Felix Bloch Erben)

UA: geplant für März 2022, Rheinisches Landestheater Neuss

Besetzung: 3 D, 1 H, Chor

 

Am Ende des Tages

„Sie wollte Gutes tun und hat Böses geschaffen: Die junge Aktivistin Andrea Julius erlangte mit ihren Protestaktionen überregionale Bekanntheit. Doch anstatt einen friedlichen Wandel anzustoßen, hat sie unbeabsichtigt einen wütenden Mob heraufbeschworen. Lautstark und gewaltbereit fordern aufgebrachte Bürger:innen nun die Schließung nationaler Grenzen zum Schutz des eigenen »Volkskörpers«. Dabei beziehen sie sich auf Andrea als Vorbild. Ein Missverständnis? In einer Talkshow will sie sich erklären. Allerdings verfolgt die intrigante Fernsehmoderatorin Lilith Rosen eigene Pläne: Neben Andrea hat sie noch Bürgermeisterin Susanne Müller und den jüngst in einen Skandal verwickelten Schlachthofbesitzer Norbert Leuchten auf ein altes Landgut eingeladen, um eine große Enthüllungsshow vor laufender Kamera zu inszenieren. Seltsam nur, dass es außer den vier Anwesenden kein Fernsehteam gibt. Kann Andrea sich dennoch erklären und die Aufmärsche, die in ihrem Namen stattfinden, stoppen?“ (Quelle: Rheinisches Landestheater Neuss)

Olivier Garofalo, in Luxemburg geboren, ist Autor und Dramaturg und derzeit Hausautor am Rheinischen Landestheater Neuss. Sein mehrfach nachgespieltes Stück „Der Marlboro-Mann“ wurde bereits ins Polnische übersetzt.

 

#2: Sergej Gößner: Rotkäppchen und Herr Wolff

(Felix Bloch Erben)

UA: Oktober 2021, Rheinisches Landestheater Neuss

Besetzung: 3 D, 2 H

 

Rotkäppchen und Herr Wolff

„Die Dorfgemeinschaft ist in Aufruhr: Ein Wolf wurde gesichtet und allen voran der Jäger plädiert dafür, mit dem Untier kurzen Prozess zu machen. Nur das Rotkäppchen stellt Fragen und würde lieber erstmal mit ihm reden. Auf seinem Weg durch den dunklen Wald lernt es den zwar etwas seltsamen, aber durchaus charmanten Herrn Wolff kennen. Gemeinsam machen sie sich auf zur Großmutter und bestehen verschiedene Abenteuer, damit Herr Wolff seine wichtige Aufgabe erledigen kann: Den alten Mond zu schütteln, auf dass er wie neu am Himmel leuchte.
Sergej Gößners Überschreibung des weltbekannten Stoffes hebelt Vorurteile über »das Fremde« aus und stellt humorvoll alte Klischees auf den Kopf.“ (Quelle: Rheinisches Landestheater Neuss)

Sergej Gößner, ist Schauspieler und Theaterautor. Sein Stück „Mongos“ wurde 2018 mit dem JugendStückePreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet.

 

#3: Bettina Erasmy: Der ideale Staat in mir

Suhrkamp Theater Verlag

UA: September 2019, Landestheater Bregenz (Österreich)

Besetzung: variabel

 

Der ideale Staat in mir

„Ein Influencer schwingt sich zum „Führer“ der Gesellschaft auf – in einer Welt, die offenbar zerstört oder doch zumindest nahe dem totalen Zerfall ist. Der Influencer fantasiert von einer „allgemein akzeptierten Wohlfühlordnung“ und meint, dazu berufen zu sein, was „Starkes, Strahlendes“ aufzubauen. Seine aus alten Denkweisen und neuen Vereinfachungen zusammengeschusterte Ideologie verherrlicht ein gefährliches Schwarz-Weiß-Denken. Und er hat Erfolg. Zwar agiert der Influencer aus der totalen Isolation heraus, er spielt aber gekonnt auf der Klaviatur politischer Meinungsmache: Seine Mittel sind die Social-Media-Kanäle, das allumfassende Internet. In kürzester Zeit hat er Millionen Follower: eine politisierte anonyme Masse, die in ihm einen Erlöser von der allgegenwärtigen Bedrohung sieht. Scheinbar nach Belieben kann er gewaltsame Aufstände und Umstürze auslösen. Doch irgendwann kippt es. (...)“ (Quelle: Theater Lüneburg)

Bettina Erasmy schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele und Dramatik. Für ihr Stück „Chapters“ erhielt sie bei den ARD Hörspieltagen 2014 den ARD Online Award.

 

#4: Rebekka Kricheldorf: Homo Empathicus

Kiepenheuer Bühnenvertrieb

UA: Oktober 2014, Deutsches Theater Göttingen

Besetzung: 26 Darsteller:innen

Eingeladen zu den Mülheimer Theatertagen 2015. Liegt in englischer und türkischer Übersetzung vor.

 

Homo Empathicus

„Man stelle sich vor: Eine Gesellschaft, in der alle Forderungen nach Gleichbehandlung durchgesetzt, alle ausbeuterischen Abhängigkeitsverhältnisse abgeschafft, alle Reparationswünsche sämtlicher Opfergruppen anerkannt und die Sprache von allen herabsetzenden Rückständen bereinigt wurde. (...) Ein Paradies der psychischen Gesundheit, eine Oase der gegenseitigen Wertschätzung. (...) Hier leidet der Mensch nicht, sondern spürt maximal eine kleine innere Unausgeglichenheit, die er sich von kundigen Ärzten wegsprechen lassen kann. Hier sind Kunst und Musik ein Lobgesang der Lebensbejahung. Hier widerlegt die Wissenschaft das Menschenbild des egoistischen, triebgesteuerten Einzelkämpfers zugunsten der Idee eines sozialen Wesens, das qua Veranlagung kooperativ, sozial und gerecht ist und von Empathie gelenkt wird. Denn es könnte ja möglich sein, dass alle anderen Charakterzüge, die wir als primäre Triebe angesehen haben – Aggressivität, Gewalttätigkeit, Egoismus und Habgier – sekundäre Triebe sind, die ihren Ursprung in der Unterdrückung unseres elementarsten Wesenszuges haben…“ (Quelle: Deutsches Theater Göttingen)

Rebekka Kricheldorf studierte Szenisches Schreiben an der UdK in Berlin. Ihre Stücke wurden bereits mehrfach zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen, zuletzt 2021 ihr Stück „Der goldene Schwanz“.

© Rheinisches Landestheater/Maximilian Schubert

 

Im Hinterzimmer

 

Nachdem im Herbst 2022 bekannt gegeben wurde, dass der renommierte Stückemarkt des Berliner Theatertreffens unter der neuen Leitung nicht fortgesetzt werden würde, suchte der Verband der Theaterautor:innen (VTheA) mit ebenjener neuen Leitung den Dialog.

Aus den Gesprächen entstand "Einzeln und im Kollektiv. Die Freie Szene der Theaterautor:innen" – eine von ausschließlich Theaterautor:innen durchgeführte Veranstaltung, bei der gegenwärtige Schreibinitiativen und Textwerkstätten sich und ihre Arbeitsweisen und -strukturen präsentieren und weiterhin Einblicke in aktuelle Texte und Projekte von beteiligten Dramatiker:innen gewähren sollten. Bei der dreistündigen Veranstaltung am 18. Mai 2023 im Rahmen des „Network Treffen“ des Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele saßen dann auf Einladung des Theatertreffens Vertreter:innen verschiedener Autor:inneninitiativen – VTheA, Neues Institut für dramatisches Schreiben (NIDS), Netzwerk Münchner Theatertexter:innen (NMT) & Wiener Wortstätten (WW) – auf dem Podium und erzählten von ihren Initiativen und über das gemeinschaftliche solidarische Arbeiten von Theaterautor:innen. Es moderierten die Dramatikerinnen Charlotte Luise Fechner und Hannah Zufall. Dieser Beitrag ist auf Einladung von theateruebersetzen.de im Nachgang an diese Veranstaltung entstanden.

von Charlotte Luise Fechner & Hannah Zufall

  1. Unvollständige lexikalische Einsichten von und in die gegenwärtigen Arbeitsweisen und -strukturen von Dramatiker:innen, welche alles andere als gemeinhin angenommen in stillen Kämmerlein einsam vor sich hinschreiben. Weitere Einträge bitte eigeninitiatorisch ergänzen.

A
Betrieb, der: besser bekannt als Theatermaschine; neben der Umsetzung auch Reflexion sowie Lektorat entstandener, teils prozessual entwickelter Theatertexte und Schreibaufträge, die durch die Hände von Dramaturgien, Regien, Verlagen und Schauspieler:innen wandern und verbessert, manches Mal auch verschlimmbessert werden; im Bestfall geregelt durch Arbeitsverträge und andere Disziplinierungsverfahren, oft mit wenig (finanziellen Verhandlungs-)Spielräumen.
C
D
E
F
G
Hinterzimmer, das: auch bezeichnet als Separée oder Vitamin B, wo Dramatiker:innen, die sich einander i.d. Regel selbst ausgesucht haben, regelmäßig über frühe Fassungen ihrer Texte, aber auch Fassungslosigkeiten in Anbetracht ihrer geringen Gagen austauschen, meist im Gestus der Mitwisserschaft, Verschwiegenheit und Gefälligkeit; Quittungen der gemeinsamen Arbeitsgespräche lassen sich zumeist steuerlich absetzen.
Institut, das: weithin geläufig als Schreibschule und Schreibstudiengang für kreatives, szenisches Schreiben, auch wenn man hier nicht Schreiben lernt, das musste man wahrscheinlich schon im Vorhinein unter Beweis gestellt haben, sondern vor allem Lesen lernt; weiterhin nützlich für spätere Arbeitskontakte und das Schließen von langjährigen Freundschaften mit anderen Leidensgenoss:innen → Hinterzimmer, → Selbsthilfegruppe und → Verbands-Stammtisch.
J
K
L
Mutterseelenallein, Adverb: sitzende Tätigkeit, meist am Schreibtisch, manchmal im Bett, auf der Couch, am Küchentisch, bei welcher unter großer Kraftanstrengung Satzzeichen zu Papier (veraltet) oder in ein elektronisches Schreibdokument (meist: Word) gebracht werden; häufig mit dem Bild des einsamen Genius oder Spitzwegs “Armen Poeten”  verbunden, evtl. handelt es sich bei dem Genius nur um einen Mythos.
N
O
P
Quelle, die: mehr oder weniger vertrauenswürdige Personen und Zusammenhänge des sog. wirklichen Lebens, die als sogenannte Expert:innen des Alltags interviewt, zitiert, literarisch verwertet und verfremdet werden; derlei Geschichten, die das Leben schreibt, gelten jedoch oft als übertrieben, künstlich oder unglaubwürdig, sodass oft dramaturgische Abmilderungen im Sinne der vraisemblance (→ Figuren) vorgenommen werden müssen → Betrieb.
R
Selbsthilfegruppe, die: (nicht gern verwendetes) Synonym für Initiative, Netzwerk und Schwarmintelligenz, meist selbst organisiert und im besten Fall mit öffentlichen Geldern unterstützt; in zunehmender Anzahl vertreten im deutschsprachigen Theaterraum, freiwillig und in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Zusammenkünfte von Autor:innen zur gegenseitigen Lektüre und/oder zum gemeinsamen Verfassen von Texten, zur Planung und Durchführung von Veranstaltungen und anderen Aktionen zur Sichtbarmachung des dramatischen Textes sowie Beratung in allen Angelegenheiten des Autor:innendaseins, Überschneidungen bestehen mit → Publikation und → Verbands-Stammtisch.
T
U
Verbands-Stammtisch, der; auch gerne als Stammtisch bezeichnet: nicht selten feucht-fröhliche, größere Zusammenkunft lose lokal verbundener Dramatiker:innen in Großstädten. Zwischenform von → Selbsthilfegruppe und → Hinterzimmer.
W
X
Y
Z

  1. Es folgt ein → Hinterzimmergespräch, das so oder so ähnlich stattgefunden haben könnte. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind vorhanden; der folgende Dialog kann Spuren von Dramatik und Erdnüssen enthalten.

So

Da wären wir also hier

Schön hier

Hier im Hinterzimmer

Bier

Lieber Kaffee

Ich hab noch ne Deadline

Anfrage kam letzte Woche

Und nein

Bevor du fragst

Fragen wolltest du doch oder

Über Geld spricht man nicht

So denkt er

Der Betrieb

Über Geld spricht man nicht

Aber wir eben schon

Also nein genug ist es nicht

Aber

Du weißt ja wie das ist

Und es ist ja auch eine Chance

Ja

Das sagt er auch gerne

Der Betrieb

 

Und vielleicht hat er ja auch Recht

Der Betrieb

Gut jedenfalls

Dass wir uns gefunden haben

Hier im Hinterzimmer

In der Selbsthilfegruppe

Am Stammtisch am Stimmtisch

Hier

In unserer eigenen Struktur

Die wir uns selbst geschaffen

In der wir sicher sind

Sind wir denn schutzbedürftig

Wir sind halt wenige

Und wenige sind immer schützenswert

Oder wie

Niemand weiß

Was wir eigentlich tun

Den einen zu wenig Literatur

Den anderen zu viel

Fallen wir in Lessings garstig breiten Graben

Da fressen uns die Raben

Nee

Nicht mal die

Für die meisten

Sind wir weder Fisch noch Fleisch

Sind wir die Gemüsebeilage vielleicht

Die Nischenkarotte

Auf jeden Fall zwischen den Stühlen

Aber nicht zwischen Buchdeckeln

Oh ja

Schwarz auf weiß

Also ich meine

Wir sind doch kein PDF

Keine Dokumente nur für den internen Gebrauch

Wir sind doch lesbar

Auch ohne großes Theater

Ja wieder lesbar werden

Sichtbar sein

Viel mehr Texte von uns drucken lassen

Die Wände der Theater müsste man mit ihnen

Tapezieren

Müsste ich auch mal wieder

Zuhause

Aber dafür fehlt ja wieder das Geld

Apropos Buchdeckel

Haste gelesen

Nee was denn

800 Seiten hat die

Hat die übers Schreiben geschrieben

Wie das geht das Schreiben so ganz praktisch

Ganz nah dran ist die an die Schreibszene

Ach das ist ja toll

Also weiß zumindest die Wissenschaft was wir

Nee nee Seite 343 Fußnote 21

Schriftstellerinnen im engeren Sinne sind wir nach der auch nicht

Wir sind da eher so in den Fußnoten vertreten

Da steht dass Theaterstücke meist geschrieben werden wenn man Geld braucht

Geldverdienen mit Theater

Dem Schreiben dafür

Süß

Das Ziel ist ganz der Roman

Und von dem wenn er Erfolg hat könnte man dann ja so als Merch

Ein Theaterstück draus machen

Und nen Stickeralbum

Aber nur in jedem siebten Ei

Und nen weichkochten Thementeller bei McDonald‘s

Der Dramo-Burger aus Nischenkarotten also

Klingt nach nem Plan

Und einem wohlbekömmlichen noch dazu

Aber Merch ist Merch

Und Kunst ist Kunst

Sprachkunst

Das ist doch das was wir

Schreiben

Texten

Dichten

Herstellen

Fabrizieren

Fabulieren

Komponieren auch

Neue Sprache die gedruckt

Und gesprochen werden soll

Von Menschen die gelernt haben zu sprechen

Weil immer wieder die ollen Kamellen

Die will doch niemand mehr sehen

Na danke schön

Hat jedenfalls das befragte Publikum gesagt

Hast du gelesen ja

Was

Na die Studie die relevante

73 Prozent wollen Neues auf der Bühne sehen

Und Neues das können wir

Und

Der Ruf nach Geschichten ist doch auch da

Und Geschichten

Geschichten können wir auch

Oder

Stoffe zum Lachen

Aber was wird

Ausgezeichnet

Ausgewählt

Ins Licht gerückt

Von den Jurys

Spielt das eine Rolle

Spielen die Entscheidungen der Jurys von den Stückwettbewerben die uns geblieben sind

Eine Rolle

In den Texten die wir gerade schreiben

Oder für die Texte die wir gerade schreiben

Müssen wir die Jurys und Kuratorien jetzt auch noch mitdenken

Es kann nur ein:e Germany‘s Next Stardramatiker:in werden

Tja quo vadis Stückemarkt

Müssen wir jetzt wirklich über den

Ich hätt gern ein Bier

Und Erdnüsse

Jetzt doch

Scheiß auf den Kaffee

Für wen schreiben wir Texte

Für das Fachpublikum

Für den Puls der Zeit

Für den Diskurs

Für das gebildete Publikum

Für das eingebildete Publikum

Für das von uns eingebildete Publikum

Ach und ich dachte für Schauspieler:innen

Für Menschen die


Die was

Das Theater lieben

 

Wo sind die

Ich hörte kürzlich

Man findet sie jetzt auf dem Flohmarkt

Gebraucht und reduziert

Ich nehm noch ein Bier

Die Erdnüsse sind auch schon wieder alle

Das ging jetzt aber schnell

Ja schnell sein

Das können wir auch

Reagieren auf die Zeit

Die Ereignisse

Die Gegenwart

Bis zum allerletzten Moment

Und danach

Ich seh schon

Dein Exposé das steht so gut wie

Toi toi toi

Selber

Doch nun genug gejammert 

Come on

Auf bald

Hier im Hinterzimmer

der Nischenkarotten

  1. Vorschläge für weitere lexikalische Einsichten in die zukünftigen Arbeitsweisen und -strukturen von Dramatiker:innen, die sich aus diesem und anderen sog. Hinterzimmergesprächen ergeben haben mögen.

Arbeitsplatz, der; bei Wunsch (geförderte und) zur Verfügung stehende Büro- und Arbeitsräume für Autor:innen, zum Beispiel in Anbindung an Theaterhäuser → Betrieb → Theaterhausautor:innenschaft → Mutterseelenallein. 
B
C
Deutschunterricht, der; zeitgenössische dramatische Texte in verschwitzte Hände und Köpfe von Kindern und Jugendlichen! Dramatik ist schließlich auch zum Lesen da – wie der Faust schon hundertmillionenfachst unter Beweis gestellt hat. Nur beim heutigen Text, da hapert es noch aus Mangel an Zugänglichkeit, aus Papier bestehender Sichtbarkeit (→ Publikation) und den Skills, wie vielleicht ein dramatischer Text zu lesen ist. Und vielleicht klappt es dann auch, dass die jungen Menschen sich angesprochen fühlten, vom Theater.
E
Figuren, die: Sind nicht unbedingt nötig, aber wenn sie da sind, auch kein Zeichen von Altertümlichkeit. Die Argumentationslinie, dass Texte mit weniger Figuren leichter zu schreiben seien, ist eine andere finanzrhetorische Finte einiger Theater (→ Betrieb), der hiermit auch widersprochen sei. Nur weil ein Text bloß zwei Figuren hat, muss er nicht weniger schwer zu schreiben sein als ein Text mit dreißig Sprachflächen.
Gegenwartsexpertise, die; ist in allen ihren Facetten das der Theaterautor:innen immanente Sachgebiet: daher die Aufforderung an die Institutionen (→ Betrieb) den Ideen und Impulsen von Theaterautor:innen zu vertrauen anstatt thematische Aufträge zu vergeben, die sich erst zu eigen gemacht werden müssen.
H
I
Jury, die: man sollte die vielausgerufene Heterogenität und Diversität ernst nehmen und auch hier (mehr) Autor:innen in die Kuratorien und Jurys berufen (lieber mal ein:e Dramatiker:in oder Lyriker:in dazu bitten statt das dritte Jurymitglied aus der Dramaturgie), ebenso mehr Schauspieler:innen, für die ja nicht zuletzt geschrieben wird und ebenso mehr Menschen aus dem Publikum; Vorschlag zur Güte: diese könnten sich wie für ein Schöffengericht bewerben und ihren riskanten Senf zum Geschehen beitragen.
Komödie, die: Wir brauchen doch alle mehr zu lachen (ja, auch die Dramatiker:innen). Und repräsentativ Befragte 83 % wünschen sich dieses vom Theater – so sollten die Theater ( → Betrieb) und die → Jurys von Wettbewerben vielleicht auch die Komödie als Kunstform wieder höher schätzen und fördern.
Literaturmarkt, der: Dramatik nicht als pekuniär verwertbares Abfallprodukt anderer (Prosa-)Literatur verstehen, sondern als gleichwertige, eigenständige Literaturform, der eine eigene Sichtbarkeit auf Augenhöhe zusteht. Ebenso gilt, dass Theatertexte auch ohne ihre Inszenierung eine Kunstform darstellen, die ihren selbständigen Eigenwert hat → Publikation.
M
Nachspiel, das; nicht der hundertsten Uraufführung der Saison nachjagen – auch bereits gespielte Texte gehören erneut auf die Bühne! Viele Texte entfalten ihre Dimensionen doch gerade erst, wenn sie von mehreren Inszenierungen beleuchtet werden. Der Faust und andere Klassiker machen es schließlich vor.
O
Publikation, die: Theaterliteratur in abgedruckter Weise wird zukünftig überall und einfach zugänglich sein, ähnlich der Prosa; ebenso wie die kürzlich auf nachtkritik.de ausgerufene Verteidigung der Stückpause zählt auch der Erwerb des Textes, zum Beispiel im Programmheft, zu den schützenswerten Praktiken des Theaters; geeigneter Ort zur Re-Lektüre des besuchten Theaterstücks ist insb. die eigene Toilette. s. auch → Literaturmarkt und → Deutschunterricht.
Q
R
S
Theaterhausautor:innenschaft, die: an jedem (!) Theater bitte eine:n Dramatiker:in; denn eine ausgewogene kulturelle Ernährung bedarf auch des Gemüses, insb. in Form der Nischenkarotte; bitte beachten, dass 1.000€ brutto im Monat kein angemessenes Honorar darstellen, nicht erwartet werden sollte, dass über die Stadt oder gar für das ansässige Regionalblatt geschrieben wird, zudem sollte bei Wunsch (nicht Verpflichtung) häufiger körperlicher Anwesenheit für familien- und haustierfreundliche Bedingungen gesorgt werden. Rotierendes System: jede Spielzeit ein:e neue Dramatiker:in oder ein Schreibkollektiv.
U
V
Wertigkeit, die: gleiche Bezahlung und Anerkennung für das Verfassen von Kinder- und Jugendstücken, welche man sich aktuell als Autor:in kaum leisten kann zu schreiben. Dabei sind Theaterstücke für ein junges Publikum keinesfalls weniger anspruchsvoll und im besten Fall auch interessant für Erwachsene. Nicht zuletzt wird hier das Publikum von morgen, wie es immer so schön heißt, angesprochen. Und es soll sich doch auch angesprochen fühlen und verdient gute Texte, oder? → Deutschunterricht.
X
Y
Zeitgenössischschaftsquote, die; mindestens 75 % aller Stücke auf den Spielplänen sollten von noch lebenden Autor:innen verfasst worden sein, schließlich leben wir in der Gegenwart und möchten diese auch auf der Bühne sehen!

tbc.

 

Beispiele für → Selbsthilfegruppen

Verband der Theaterautor:innen (VTheA)

theaterautor*innen-netzwerk im ensemble-netzwerk

Netzwerk Münchner Theatertexter:innen

Neues Institut für dramatisches Schreiben

Wiener Wortstätten

 

Beispiele für (denn es geht ja doch!)  → Publikationen:

Eine gute Übersicht dazu findet sich dazu hier

Weitere Quellen:

nachtkritik.de, Kolumne: Als ob! – Über die soziale und dramaturgische Bedeutung der Pause                                                        

Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Berlin: Suhrkamp 2021

Stefan Deines: Literatur: Die Künste der Sprache. In: Georg W. Bertram / Stefan Deines / Daniel Martin Feige (Hg.): Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 258-276.

kritisch dazu: Hannah von Sass: “Warum Schreiben nicht gleich Prosa ist. Über die Betrachtung von literarischer Diversität in den Literaturwissenschaften” (erscheint im Nov. 23 in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur)

forsa-Studie im Auftrag des Liz Mohn Centers der Bertelsmann Stiftung: Relevanzmonitor Kultur – Stellenwert von Kulturangeboten in Deutschland 2023

 

Text im Digitaltheater

Braucht ein Digitaltheater neue Texte? Um diese Frage zu beantworten, müssten wir eigentlich erst mal über das Digitaltheater sprechen. Und das ist nicht so einfach, denn  „das“ Digitaltheater gibt es gar nicht. Ist Digitaltheater ein Stream auf Twitch? Eine VR-Brille mit einer Ballettproduktion, die man mit der Post nach Hause geschickt bekommt? Ein Abend mit generativer KI und Sensor-Input des Publikums? Richtig ist, dass unter Digitaltheater derzeit alle Formen und Versuche subsumiert werden, in denen das Theater entweder von der leibhaftigen Kopräsenz ins Digitale migriert oder in dem es neue Technologien als narrative Mittel auf der Bühne einsetzt. Während ich ersteres am ehesten als eine Art neue Bühne beschreiben würde, ist letzteres die konsequente Erweiterung des bühnentechnischen Instrumentariums im Rahmen dessen, was uns schon bekannt ist. Zwei ganz unterschiedliche Dinge also: Eine neue Bühne und ein neuartiges Instrumentarium auf einer alten Bühne. Braucht es hierfür neue Texte?

Während die Oper ihren klassischen Kanon mit den Mitteln modernen Regietheaters immer wieder neu befragt und die Übersetzung in aktuelle Kontexte im Musiktheaterbereich für alle außer für eine doch schrumpfende Minderheit an traditionellen Liebhaber:innen gängig und normal erscheint, und auch im Schauspiel Klassiker mittlerweile beherzt überschrieben, neugedacht und an zeitgenössische Diskurse und performative Herangehensweisen angepasst werden, gibt es in digitalen Theaterformen, was die textuelle Grundlage betrifft, zwei große Strömungen: Die Heranziehung von kanonischen Werken oder zumindest für das Theater geschriebenen Theatertexten findet man eher in Abenden, die digitale Werkzeuge als Erweiterung der bühnentechnischen Ausstattung betrachten. Ein schönes Beispiel ist hier die Oper „Orfeo ed Euridice“ von Christoph Willibald Gluck, die Regisseur André Bücker am Staatstheater Augsburg im Jahr 2020 mithilfe von 500 VR-Brillen im Zuschauer:innenraum um eine virtuell animierte Bühnenbildkomponente bereichert hat. Dort, wo das Digitaltheater sich eher als neue Bühne begreift oder zu begreifen sucht, finden wir auf der anderen Seite vermehrt neue Stoffe, extra für das Projekt angefertigte Texte oder Stückentwicklungen. Ein Beispiel aus Augsburg wäre hier die Social-VR Infrastruktur „Elektrotheater“, das die Zuschauenden zu Mitspielenden werden ließ, in dem das live gespielte Theater mittels nach Hause versandter VR-Brillen in einer virtuellen Welt stattfand – alle Beteiligten waren kopräsent, aber als Avatar im 3D-animierten Raum versammelt und das Stück war eine Entwicklung der für immersive Theaterspiele bekannten Performancegruppe Das Planetenpartyprinzip.

Beiden Ausprägungen des Digitaltheaters ist gemein, dass ab und zu Theatermacher:innen so begeistert von den Möglichkeiten neuer Technologien oder digitalen Bühnen sind, dass die zwingende Verbindung mit einem Inhalt oder zumindest einer Nachricht einem allumfassenden Technikenthusiasmus weicht. Getreu Marshall McLuhans „The Medium is the Message“ ist die Voraussetzung, dass ich auf Twitch etwas zu erzählen habe, was ich zwingend und ausschließlich nur auf Twitch erzählen kann, nicht mehr so relevant wie die bloße Tatsache, dass ich jetzt auch auf Twitch als neuer Bühne senden kann. McLuhan fand das richtig und konsequent, denn die Form oder Charakteristik eines neuen Mediums war in seinen Augen viel grundlegender gesellschaftsprägend als etwaige Inhalte[1]. Dazu kommt, dass man eine neue Bühne erst erproben und ausloten muss, bevor man das volle Instrumentarium, das diese Form des Theaterspielens bietet, ausschöpfen kann.

In Augsburg haben wir genau so ein Ausprobieren-Format auf Twitch gehabt: „Futurioso – eine technofuturistische Late-Night Show“ war ein sehr quatschiges, verspieltes monatliches Sendeformat, das vor allem einen Zweck hatte: Uns regelmäßig zum Lernen über den Kanal und dessen „Bühnenbeschaffenheiten“ anzuregen. Wir haben dort beispielsweise gelernt, dass wir an genau einer Stelle ein Gefühl von Kopräsenz bei den Zuschauenden hervorrufen können – nämlich im Chat, der bei Twitch ein sehr mächtiges Instrument ist. Deshalb haben wir in späteren Projekten mit Twitch die Chatfunktion systematisch mit in Projekte einbezogen und die Interaktion mit den User:innen dort ausgebaut. Die intensivsten Twitch-Erfahrungen haben wir da gemacht, wo wir stark mit den Chatter:innen in Kontakt getreten sind, in denen sich die Grenzen zwischen Spielenden und Publikum ein Stück weit vermischt haben, in denen Text eine fluide Angelegenheit war und sich am Abend auch verändern durfte.

Theater erfindet sich permanent neu. Weshalb es sinnvoll sein kann, für die Frage nach neuen Texten im Digitaltheater auf Theorien zurückzugreifen, die das Theater ebenfalls neu erfinden wollten, jeweils vor 116 und 85 Jahren. Beide Texte können als theoretische Grundlage für die Erfindung des Digitaltheaters gelesen werden, obwohl sich beide Männer mit allem anderen, aber sicher nicht mit Digitalität auseinandergesetzt haben. Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest)“ und Edward Gordon Craigs ikonischer Text über die Übermarionette prägen mein Verständnis von digitalen Theaterformen dennoch bis heute. Beide Künstler wehrten sich gegen das Theater ihrer Zeit, beide haben nicht nur eine für sich jeweils völlig neue Ausdrucksform des Theatralen erfunden, sondern eine neue Sprache gleich mit. „The language of the stage: It is not a question of suppressing the spoken language, but of giving words approximately the importance they have in dreams. Meanwhile new means of recording this language must be found, whether these means belong to musical transcription or to some kind of code”, schreibt Artaud[2]. Sein neues Theater, postuliert Artaud, kann nicht mit derselben Sprache, demselben Realismus in denselben Texten umgehen, wie das Theater, gegen das er sich auflehnt. Es muss eine neue Sprache her, neue Texte, ein neuer Code für das Aufzeichnen dessen, was er statt des klassisch in Schriftform übermittelten Textes in die Mitte seines Theaters der Grausamkeit stellen wollte. Übertragen auf das Digitaltheater hieße das, neue digitale Bühnen brauchen nicht nur neue Texte, sondern ganz umfassend einen anderen Umgang mit Sprache, einen anderen Umgang auch mit Inhalten, Themen und Ausdrucksformen. Memekultur, hyperverlinktes Erzählen und der Loop, den schon Kay Voges in der „Borderline Prozession“[3] als zentrales erzählerisches Element des Internetzeitalters erkannt hat, finden im Digitaltheater anders und nativ einen Platz, wo sie auf der Guckkastenbühne nur als Zitat vorkommen können.

Auch Edward Gordon Craig, der Urvater avatarisierten Erzählens, hat sich sehr klaren Worten gegen die Traditionen seines zeitgenössischen Sprechtheaters ausgesprochen. Natürlich wollte Craig zuallererst die Schauspieler:innen abschaffen: „Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird die unbelebte figur einnehmen – wir nennen sie die über-marionette, bis sie sich selbst einen besseren namen erworben hat“[4]. Diese Übermarionette, die als „letzter abglanz einer edlen und schönen kunst vergangener kulturen“[5] aus Craigs Theater eine Art rauschhafter Trance machen sollte, steht hier im Zentrum nicht nur einer neuen Technologie, die alte Narrativen neu bebildern sollte, sondern für Craig ganz klar im Zentrum einer neuen Bühnenkunst, eines neuen Theaters. Für Craig war der Feind der Kunst der Realismus, die „plumpe nachbildung des lebens, etwas das jeder missversteht, sobald er es wahrnimmt“. Ein Theater der Übermarionette, das musste „die ruhe und kühle des lebens in trance“ sein, der „atem unerschöpflicher hoffnung“.[6] So ein Theater kann man mit traditionell überlieferten Texten schlecht machen – weshalb er an seiner ersten eigenen Inszenierung von „Hamlet“ auch sieben Jahre lang ergebnislos geprobt hat.

Was folgt daraus? Vielleicht, dass neue Bühnen neue Regeln haben und neue Dinge, die dort funktionieren oder auch nicht funktionieren. Dass wir diese Regeln erst lernen müssen, um sie schlußendlich brechen zu können. Dass wir seit ein paar hundert Jahren wissen, wie unsere Opern- und Schauspielbühnen, unsere Kammerspiele, Foyers und Studios funktionieren, wie wir sie mit Klassikern ebenso wie mit Stückentwicklungen und neuen Texten bespielen, dass wir sowohl wissen wie Erzähltheater geht, als auch performative Installation. Während die Erweiterung der physischen Bühne mit digitalen Mitteln relativ glatt in bestehende Abläufe und Entstehungsprozesse integriert werden kann, ist das Erlernen vom Spielen in digitalen Bühnen mit einer steileren Lernkurve verbunden. Denn genauso wie unsere physischen Bühnen sind digitale Räume nicht luftleer – tote Orte, die nur auf das Theater gewartet haben. Es sind Orte mit bereits bestehenden kulturellen Konventionen, Gesprächsverabredungen, Slang, einem anderen Tempo und anderen Ausdrücken und einer komplexen Entwicklungsgeschichte, die rezipiert und in die Inszenierungen mit eingebunden werden will.

Als am Anfang der Pandemie Theater in diese Räume gedrängt sind, haben sie schnell gemerkt, dass sie als Sender nicht die Deutungshoheit über ihren Inhalt hatten, was sie irritierend fanden. Während man im Theater als Zuschauer:in schnell lernt, dass es im Zuschauer:innenraum dunkel wird, und man sich nicht laut unterhält während einer Vorstellung, ist das Rezeptionsverhalten im Internet mitunter ein vollständig anderes und ein Theater nur ein Contentersteller neben vielen. Deshalb können wir, wenn wir als Theater auf Tiktok oder Twitch senden, Games oder AR-Opern machen, ein IRC-Stück erfinden oder einen Dungeons&Dragons Abend gestalten, nicht darauf bauen, dass wir schon wissen, was funktioniert. Es braucht die Craigs und die Artauds, die Neuerfinder:innen einer Sprache für das Digitaltheater, die radikal das aufbricht, was wir von Theater zu verstehen glauben. Craig und Artaud wurden übrigens Zeit ihres Lebens für ihre Theorien ausgelacht, erst viel später hat man verstanden, wie wichtig ihre Konzepte für die Weiterentwicklung des Theaters waren. Ob man also für das Digitaltheater neue Texte braucht? Unbedingt. Und eine andere Sprache. Ein neuer Code. Ein Theater, das sich absolut wegbewegt von dem, was wir kennen. Eine neue Bühne mit neuen Regeln. Eigentlich also alles anders. Nicht nur der Text. Aber bevor man sich auf diesen Weg macht, sollte man sich möglicherweise darüber im Klaren sein, dass der Weg zu so einem Theater holprig sein kann. Und dass, wenn man sich zu weit wegbewegt von seiner angestammten Umlaufbahn, einfach aus der Planetenriege ausgestoßen werden kann und fortan als Zwergplanet seine irregulären Kreise ziehen muss. Aber dafür hat man dann ein neues Theater miterfunden. Das ist doch auch was.

 

Tina Lorenz studierte Theaterwissenschaft und Amerikanische Literaturgeschichte. Sie arbeitete u.a. als Dramaturgin und hat viel zu den Möglichkeiten digitaler Theaterformen publiziert. Seit 2020 ist sie am Staatstheater Augsburg für die Sparte Digitaltheater verantwortlich.

 

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/The_medium_is_the_message
[2] Artaud, Antonin.“The Theater of Cruelty (First Manifesto)”, in The Theater and its Double, 1958. Übersetzt aus dem Französischen ins Englische von Mary Caroline Richards.
[3] https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/nordrhein-westfalen/dortmund/theater-dortmund/die-borderline-prozession-im-megastore-in-dortmund-kreiert-kay-voges-eine-netzhaut-wie-videokamera-ueberfordernde-gesamtkunstwerkwelt
[4] Craig, Edward Gordon. „Der schauspieler und die übermarionette“, in: Über die kunst des theaters, 1907. Seite 66. Durchgehende Kleinschreibung bis auf Satzanfänge im Original. Deutsch von Elisabeth Weber und Dietrich Kreidt.
[5] Craig, S. 66.
[6] Craig, S. 71
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