Einführung
Das Theater kann sich hören lassen
von Matthias Huber
Mittels der Audiodeskription, kurz AD, werden blinden und seheingeschränkten Besucher:innen die visuellen Vorgänge auf der Bühne erfahrbar gemacht. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Hörbeschreibung“.
In den meisten Fällen wird die Audiodeskription per Empfangstechnik von Live-Sprecher:innen gesprochen, passgenau in die entstandenen Lücken zwischen Text, Musik und Geräuschen einer Inszenierung. Die Audiodeskription muss so wertfrei wie möglich beschreiben, es geht nicht um Erklärung oder gar Interpretation – der Assoziationsraum muss für blinde und sehende Zuschauer.innen gleichberechtigt gelten. Gleichzeitig muss sich die Audiodeskription als Teil der Inszenierung verstehen und sich deren Atmosphäre, Rhythmus und Besonderheiten anpassen – sie darf nicht als Fremdkörper empfunden werden. In der Regel besteht ein AD-Team aus einer nichtsehenden und zwei sehenden Autor:innen, die diese speziellen Hörtheaterfassungen gemeinsam erstellen. Die Live-Audiodeskription vorbereitend, vermittelt eine blindengerechte Einführung vor der Vorstellung zudem Bühnenbild, Kostüme und Requisiten in Dimension und Haptik. Auch vorproduzierte Audio-Einführungen werden immer öfter auf den Webseiten der Theater bereitgestellt, die vor dem Theaterbesuch in Ruhe angehört werden können.
Vor allem in Großbritannien gehört Audiodeskription bereits seit Jahren zum Standard, dient auch hier in Deutschland zur Orientierung und gibt Impulse. In Deutschland gab es seit den 2000er Jahren immer wieder vereinzelte Projekte und Initiativen, erste regelmäßige und ständig erweiterte AD-Repertoire entstanden etwas später – am Musiktheater in Revier Gelsenkirchen (2012) oder dem Schauspiel Leipzig (2013). Mittlerweile bieten viele Theaterhäuser Audiodeskriptionen an, mal regelmäßiger, mal punktueller.
Seit kurzem wird die Audiodeskription auch immer öfter in offener Form angeboten. Als inklusiv gedachter Teil einer Aufführung für alle Menschen, bei der die Live-Einsprache über die Saalboxen erfolgt, oder als integrierter Bestandteil einer Inszenierung. Die Bezeichnung für diese Art der Audiodeskription ist unterschiedlich: Integrierte AD, Kreative AD oder Künstlerische AD sind die Varianten. Hier ist die Audiodeskription immanent und dramaturgisch bedachter Bestandteil der Produktion unter künstlerischer Einbeziehung blinder Menschen. Impulse kommen vornehmlich aus der freien Szene, immer mehr Performances an Produktionsstätten wie den Sophiensälen in Berlin, Kampnagel in Hamburg, Hellerau in Dresden, LOFFT – DAS THEATER in Leipzig oder bei Un-Label Performing Arts Köln wählen diese „Aesthetics of access“-Zugänglichkeit.
Jedes Theater und jede Gruppe sollte für sich die Form auswählen, die am besten passt – und auch leistbar ist. Sowohl finanziell als auch inhaltlich. Ohne die Einbeziehung blinder Menschen und sehender Expert:innen wird das barrierearme Angebot allerdings zur bloßen Hülle und geht am Zielpublikum vorbei. Es ist also unerlässlich, Kontakt zu erfahrenen AD-Teams aufzunehmen. Diese können die Audiodeskription autark erstellen und durchführen oder sie schulen vor Ort und betreuen die Produktion während des Prozesses bis hin zur Premiere.
Matthias Huber war ab 2012/13 für den Aufbau und die Weiterentwicklung der „Audiodeskription am Schauspiel Leipzig“ verantwortlich und erweiterte die Barrierefreiheit am Haus. Seit September 2018 arbeitet er als freischaffender Regisseur, Dramaturg und als Autor für Audiodeskriptionen – für mehrere Auftraggeber in unterschiedlichen Genres und Medien. Matthias Huber ist Mitglied im Hörfilm e.V., der Vereinigung deutscher Filmbeschreiber:innen. www.matthiashuber.net
Der Titel des Artikels entstammt dem Beitrag “Theaterabend für Blinde und Sehbehinderte” von Martin Becker (Deutschlandfunk, 09.12.2013)
Audiodeskription im Theater
von Rose Jokic
Lichtfarben, Mimik oder Bewegungen auf der Bühne – für blinde Theaterbegeisterte, wie die Autorin Rose Jokic spielt all das eine große Rolle. Der Theaterbesuch ist nur dann ein Genuss, wenn man der Handlung „blind“ folgen kann. Beschreibungen fügen sich ins Geschehen so hinein, dass ein vollkommenes Abtauchen in die Bühnenwelt möglich wird.
Blinde und stark seheingeschränkte Menschen können so an der Schauspielkunst im Theater teilhaben. Als Autor:innen wirken sie gemeinsam mit sehenden Beschreiber.innen an der Entstehung der Hörfassung mit. Theaterschaffende machen ihre Kunst für nicht sehendes Publikum erfahrbar, indem sie ihre Stücke entsprechend aufbereiten lassen.
Doch die Produktion einer Audiodeskription sollte gut durchdacht sein und erfordert einiges an Vorbereitung. Was genau an welcher Stelle beschrieben werden soll, damit beim nichtsehenden Publikum passende Bilder zum Bühnengeschehen entstehen, ist ein Prozess, der aus mehreren Schritten besteht.
Wie entsteht eine Theater-Audiodeskription
Die Audiodeskription entsteht im besten Fall in enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble, der Dramaturgie und mindestens einer blinden Person. Dabei wird ein Audioskript, also ein Manuskript mit den zu beschreibenden Elementen und Inhalten erstellt. In diesem wird festgehalten, was genau beschrieben wird, an welcher Stelle und wie lange.
So können die Umgebung, Bühne und Kostüme beschrieben und durch Tastvorführungen erfahrbar gemacht werden. Für die Handlung gilt es, passende Bilder entstehen zu lassen, ohne in das Handlungsgeschehen vorzugreifen und zwar so, dass die Beschreibungen genau in die Dialogpausen passen.
Audiodeskriptive Einführung
Neben der Bühne wird zunächst auch die Umgebung, mit den Farben und der Beleuchtung beschrieben. Dazu gehören auch der Bühnenhintergrund und der Zuschauer:innenraum. Diese Beschreibungen, insbesondere des Bühnenbilds, erfolgen ganz am Anfang, bevor die Handlung beginnt und dann jeweils beim Szenenwechsel. Beschreibungen wie, die Bühne ist in Form eines Halbkreises, einer Rampe, eines Grabens oder als Podest aufgebaut können dabei aussagekräftig sein. Die Bodenbeschaffenheit, Wandauskleidung sowie das Mobiliar werden ebenfalls beschrieben. Hinzu kommen die Gegenstände und die Lichteffekte.
Anschließend folgt die Beschreibung der Kostüme und der schauspielenden Personen mit ihren jeweiligen Rollen. Dabei spielen Materialien, aus denen die Kostüme gemacht sind ebenso eine Rolle, wie die Farben und Muster der Stoffe.
Bei der Personenbeschreibung wird auf besondere Merkmale, wie Körpergröße, Haar- oder Augenfarbe, Gesichtszüge sowie auf die Mimik und Gestik im Vorfeld und während der Handlung eingegangen. Gerade die lautlosen Bewegungen der Augen und Gesichter können viel ausdrücken, was einem blinden Publikum zum Handlungsverstehen ohne Beschreibungen fehlen würde. Ob ein Kostüm aus bunten Federn, groben Stoffmustern oder glatten, glänzenden Seidenstoff besteht und ob eine passende Maske zum Gesicht vorhanden ist, lässt sich nicht nur gut beschreiben, sondern auch ertasten. So werden neben der Beschreibung im Vorfeld einer Theateraufführung auch Tastführungen angeboten.
Die Tastführung
Eine Tastführung dient dazu, Informationen im Vorfeld einer Vorführung zu geben. Dabei erhalten seheingeschränkte Theaterbesucher:innen bis zu zwei Stunden vor der eigentlichen Aufführung die Möglichkeit, die Bühne zu begehen und die wichtigsten Gegenstände, welche in der späteren Handlung vorkommen, zu ertasten. Auch Kostüme oder Stoffe, aus den die Kostüme gemacht sind können angefasst werden, ebenso Masken oder Perücken etc.
Erforderlich ist die Tastführung zumeist deshalb, weil in den Sprechpausen wenig Zeit zur Verfügung steht, um das Bühnengeschehen, Personen, Gegenstände und das Bühnenbild zu beschreiben. Blinde und seheingeschränkte Personen können dank der zuvor besuchten Tastführungen genau erfahren, welche Szenen im welchen Bühnenabschnitt passieren oder wo das Orchester platziert ist, und sich später von ihrem Platz im Publikum aus auf die Handlung konzentrieren.
Die Handlungsbeschreibung
Nachdem die Umgebung, das Bühnenbild und die handelnden Personen beschrieben und erfahrbar gemacht wurden, gilt es, während der eigentlichen Theatervorführung am Geschehen zu bleiben. Die beschreibende Person nutzt ein zuvor gemeinsam mit einer/einem blinden Autor:in angefertigtes Manuskript. Dieses beinhaltet auf die Sprechpausen zeitlich abgestimmte Beschreibungskommentare, welche für die blinden und seheingeschränkten Zuhörenden, live eingesprochen werden. Die Kommentare sind möglichst neutral und fügen sich deskriptiv ins Handlungsgeschehen ein. Lautlose Bewegungen, Szenenwechsel oder Lichtsignale werden dabei ebenso gesprochen, wie spontane Änderungen im Ablauf. Wichtig ist dabei, dass nichts übersprochen wird und sich die Stimme den Umgebungsgeräuschen anpasst.
Ein Beispiel an dieser Stelle soll eine Handlungsbeschreibung verdeutlichen: "in Kerzenlicht getaucht kniet er sich hin und schaut ... fragend an. Sie wendet sich ab und hebt die Arme über ihren Kopf. Er blickt traurig auf dem Boden...".
Die Handlung wird in einer leicht verständlichen Sprache beschrieben. Die Sprechgeschwindigkeit kann variieren, wenn es die Dialogpausen erfordern. Die Musik kann an manchen Stellen kurz übersprochen werden, sollte jedoch atmosphärisch hörbar sein.
Handlungsbeschreibungen für Kinder
Die Beschreibungen für Kinder unterscheiden sich von den Beschreibungen für Erwachsene dahingehend, dass sie nicht nur deskriptiven, sondern auch erzählerischen Charakter haben können. Blinde Kinder benötigen intensivere Beschreibungen von Gegenständen und Metaphern. Die Live-Audiodeskription muss spontane Handlungsänderungen kindsgerecht beschreiben können. Eine Besprechung im Nachgang ist evtl. auch sinnvoll.
Die Platzierung und Ausstattung des blinden- und seheingeschränkten Publikums
Zuhörende einer Audiodeskription sollten überall im Zuschauer:innenraum sitzen können. Sie sollten mit Kopfhörern ausgestattet sein, welche die Live-Übertragung der Audiodeskription ermöglichen. Meist sind diese im Vorfeld der Vorführung an einem Stand vor dem Zuschauer:innenraum ausleihbar. Es handelt sich dabei um ein kleines Gerät mit Kopfhörern, welches über Funkverbindung die Beschreibung überträgt. Auch eigene, handelsübliche Kabel-Kopfhörer können daran angeschlossen werden.
Zeitlicher und finanzielle Aufwand
Für die Entstehung einer Audiodeskription sollten zeitliche und finanzielle Ressourcen eingeplant werden. Die Erarbeitung der Beschreibungen sollte zu Beginn der Inszenierungsplanung erfolgen. So können rechtzeitig erforderliche Sprechpausen eingeplant werden und auch die Inhalte gegebenenfalls so angepasst werden, dass sie weniger Interaktion durch Beschreibungen von außen erfordern. Genügend Zeit sollte auch eingeplant werden für die Manuskripterstellung der Audiodeskription und für die erforderlichen Proben mit blinden Autor:innen. Für ein seheingeschränktes Publikum müssen besondere Informationskanäle berücksichtigt werden, um auf die Angebote einer Audiodeskription in der kommenden Spielzeit aufmerksam zu machen. So sind Audioflyer, Flyer in Großdruck oder barrierefrei aufbereitete Informationen auf der Webseite und in Social-Media-Kanälen möglich. Ebenso dient die Kontaktaufnahme mit der Blindenselbsthilfe, Schulen in der Umgebung etc. einer erfolgreichen Bekanntmachung des Angebotes mit Audiodeskription.
Der finanzielle Aufwand kann für die Aufbereitung der Audiodeskription mit der barrierefreien Informationsgestaltung sowie Bewerbung einige tausend Euro betragen. Es empfiehlt sich daher dies frühzeitig im Budget einzuplanen und ggf. auch Fördermittel zu beantragen.
Der Mehrwert für das nichtsehende, zuhörende Publikum
Ob im Film oder im Theater, bei Sport- oder anderen Events - Audiodeskription hat sich in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark weiterentwickelt. Blinde Menschen nehmen so am visuellen Geschehen teil und können mit sehenden Menschen über das Erlebte sprechen.
Das Theater als ein dem Publikum zugewandtes Forum schafft mit Hilfe von Audiodeskription blinden und stark seheingeschränkten Menschen den Zugang zum Bühnengeschehen. Diese Kunst eröffnet Menschen, die von Geburt an blind sind ein besseres Verständnis von der Theaterwelt und insgesamt vom Weltgeschehen um sie herum. Menschen, die später erblindet sind, erfreuen sich durch die Beschreibungen der Farben und Bilder über die so geschaffenen Zugänge zu der nicht mehr vorhanden visuellen Welt.
Der Mehrwert für alle
Künstler:innen schätzen zuhörendes Publikum und freuen sich über langanhaltenden Zuspruch. Sprecher:innen von Audiodeskription schaffen noch erfrischende oder gar noch nie dagewesene Bilder im Kopf und sorgen gemeinsam mit dem Ensemble und den blinden Autor:innen für Inklusion.
Mit Hilfe von Audiodeskription wird kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe gelebt. Der Blick wird über eigene Wahrnehmung hinaus geschärft und die künstlerische Darstellung dank Sinnesübertragung erfahrbar.
Rose Jokic ist Beraterin für Barrierefreiheit in digitalen Medien. Sie arbeitet als blinde Autorin für Audiodeskriptionen im Film und Theater.