Übertitel für Gehörlose
Die Übertitelung für gehörlose und schwerhörige Menschen
von Linda Stegmann
Die meisten Theateraufführungen auf deutschen Bühnen sind für die 80.000 gehörlosen und 13 Mio. schwerhörigen Personen in Deutschland ohne Hilfsmittel nicht (vollständig) rezipierbar, da viele wichtige Informationen akustisch vermittelt werden. Gängige Hilfsmittel wie Cochlea-Implantate oder Hörgeräte bieten kein natürliches Hörerlebnis, sodass der Zugang zu akustischen Informationen beim Theaterbesuch eingeschränkt bleibt.
Inszenierungen, bei denen gehörlose und schwerhörige Personen (GSP) nicht mitbedacht wurden, kann die Übertitelung die Inszenierung für gehörlose und schwerhörige Menschen (ÜGS) im Nachhinein zugänglich machen. Die ÜGS ermöglicht theatrale Kommunikation über Barrieren, indem wie bei der Fernseh- und Film-Untertitelung für GSP (SDHvon Subtitles for the Deaf and Hard of Hearing) auditiv wahrnehmbare verbale und nonverbale Zeichen mit kommunikativer Intention (u. a. Dialoge, Informationen zur Zuordnung der Sprecher:innen, Musik, Soundeffekte, Geräusche aus dem Off, paraverbale Elemente) in visuell per Schriftsprache rezipierbare Zeichen übertragen und so über alternative Sinneskanäle erfassbar werden (intersemiotische Translation).
Ein einzelner Übertitel besteht aus 1–3 Textzeilen mit je max. 30–45 Zeichen inkl. Leerzeichen. Die Übertitel werden im Wechsel oder durch Scrollen auf dafür vorgesehenen Flächen im Bühnenbereich (Open Captioning) oder auf nur für einzelne Zuschauer.innen sichtbaren Bildschirmen wie Tablets, Smartphones und Smartglasses oder im Vordersitz befindlichen Monitoren (Closed Captioning) angezeigt.
Qualitativ hochwertige Übertitel erlauben es GSP, sich auch ohne spezielle Einführung zu Stück und Inszenierung ein Urteil über Qualität, Wesen und Intention einer Aufführung zu bilden und sich von ihr intellektuell und emotional berühren zu lassen.
Intendierte Nutzer:innen der ÜGS sind alle GSP mit Kenntnis der jeweiligen Lautsprache und der darauf aufbauenden Schriftsprache. Bei der Übertitelgestaltung muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Lesekompetenz der Adressat*innen sehr divers ist:
Die meisten stark Schwerhörigen haben die Hörschädigung als Folge des Alterns erfahren. Sie sind vielleicht einmal gern und regelmäßig ins Theater gegangen, haben hörende Bekannte und müssen sich erst daran gewöhnen, dass die Gesellschaft auf hörende Personen ausgerichtet ist.
Weit weniger GSP sind von Geburt oder früher Kindheit an gehörlos oder schwerhörig. Sie fühlen sich oft eher der Gehörlosenkultur zugehörig und haben unter Umständen lückenhafte Laut- und Schriftsprachkenntnisse, da sie als Kind evtl. nicht zuerst intuitiv übers Sehen eine Gebärdensprache (wie hörende Kinder übers Hören eine Lautsprache) erworben und sich die jeweilige Lautsprache als Zweitsprache angeeignet haben.
Erstellt werden Übertitel eigens für eine Inszenierung viele Tage vor dem eigentlichen Theaterabend: Anhand von Video- und Audioaufzeichnungen von Proben und/oder Aufführungen sowie der evtl. zugrundeliegenden Spielfassung eines Theatertextes erfasst der/die Übertitler:in alle handlungsrelevanten akustischen Elemente sowie den ganz eigenen Rhythmus einer Inszenierung aus vereinbarten Einsätzen oder Cues von Schauspiel, Ton und Licht. Am eigentlichen Theaterabend werden die vorbereiteten Übertitel dann live gefahren, also einzeln möglichst synchron zum zu übertitelnden akustischen Element an die dafür vorgesehene(n) Anzeigefläche(n) gesendet.
Dieser Übertitelungsprozess erfordert höchste Aufmerksamkeit: Jeder Titel muss lesbar und verständlich für die Nutzer:innen sein, hat aber eine beschränkte Zeichen- und Zeilenanzahl. Zudem muss die aus der Schriftsprachkompetenz resultierende Lesegeschwindigkeit der GSP berücksichtigt werden. Es kommt also zu Textkürzungen. Vor allem aber gleicht keine Aufführung der anderen: Das Tempo variiert allabendlich und es kann zu spontanen Änderungen, Auslassungen oder Improvisationen kommen. Daher werden Übertitel nie ganz passend sein – weder inhaltlich noch vom Timing her.
Bei der Erstellung von ÜGS sind Richtlinien, Erfahrungswerte und Empfehlungen zu den verwandten bereits länger und intensiver genutzten Translationsarten interlinguale Übertitelung und SDH-Untertitelung nützlich.
Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention die barrierefreie Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen fordert und immer mehr Theaterhäuser im deutschsprachigen Raum ihr barrierefreies Angebot ausbauen, bleibt die flächendeckende Barrierefreiheit am Theater weiterhin eine Vision. Aufführungen mit ÜGS gibt es bislang nur äußerst selten, obwohl sie in anderen Ländern (z. B. Großbritannien) schon seit über 20 Jahren erfolgreich angeboten wird. Die ÜGS würde viele Besucher:innen erstmals – oder wieder zurück – ins Theater bringen. Im kombinierten regelmäßigen Angebot mit technischen Anlagen, die das Audiosignal verstärken (z. B. Induktionsanlagen), und Gebärdensprachverdolmetschung könnte die diverse Zielgruppe der GSP für „hörendes“ Theater begeistert werden.
Weiterführende Links:
- Linda Stegmann (2020): „Übertitelung für gehörlose und schwerhörige Personen per Smartglasses. Pilotstudie zur Nutzer*innen-Akzeptanz von Translationsart und Technik sowie zur Übertitelgestaltung für Datenbrillen“. Universitätsverlag Hildesheim. DOI: https://dx.doi.org/10.18442/125
- Nützliche Checklisten und Richtlinien zur Übertitelung für gehörlose und schwerhörige Personen der britischen Wohltätigkeitsorganisation Stagetext: https://www.stagetext.org/for-venues/resources/
- Qualitätsstandards für barrierefreie Untertitel des AVÜ: https://filmuebersetzen.de/fileadmin/redaktion/dokumente/AVUE_UT_Standards_SDH_20230216.pdf
- SDH-Untertitel-Richtlinien der BBC: https://www.bbc.co.uk/accessibility/forproducts/guides/subtitles/
- Richtlinien für die MDR-Untertitelung: https://www.mdr.de/unternehmen/ausschreibungen/richtlinien-mdr-untertitelung-100.html
- SDH-Untertitel-Standards von ARD, ORF, SRF, ZDF: https://www.daserste.de/specials/service/untertitel-standards100.html
- Deutscher Gehörlosen-Bund e.V. – Interessenvertretung der Gehörlosen in Deutschland und Forum für die Gebärdensprachgemeinschaft: http://www.gehoerlosen-bund.de/
- Deutscher Schwerhörigenbund e. V. – Bundesweiter Selbsthilfeverband schwerhöriger und ertaubter Menschen: https://www.schwerhoerigen-netz.de/
Linda Stegmann ist freiberufliche Übersetzerin und Lektorin (BDÜ) für Englisch, Russisch und Deutsch, mit den Schwerpunkten Geisteswissenschaften, Geschichte, psychische Gesundheit, Film und Theater. Sie studierte B.A. Translation und M.A. Translatologie am IALT, Universität Leipzig. Während des Studiums forschte sie zum „Inklusiven Theater und der Rolle der Translation“ (trans-kom 7.1, https://www.trans-kom.eu/bd07nr01/trans-kom_07_01_04_Stegmann_Theater.20140606.pdf) sowie zur „Übertitelung für gehörlose und schwerhörige Personen per Smartglasses“ (Universitätsverlag Hildesheim, https://doi.org/10.18442/125 ). Für letztere Studie erhielt sie den CIUTI-MA-Preis 2019 für herausragende Studien im Bereich der Translationsforschung. Kontakt: linda.stegmann@web.de