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Anforderungen DGS

Theaterkunst für alle

Wie können Orte kultureller Darbietungen inklusiv für taube Zuschauer:innen gestaltet werden? 

von Gudrun Hillert (mit herzlichem Dank an Simone Lönne-Pacalon und Sabine Pacalon für viele hilfreiche Hinweise!)

Der Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten, dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderungen a) gleichberechtigt am kulturellen Leben teilhaben können und b) Möglichkeiten erhalten, „ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft“. 

Voraussetzungen:

Am Theater braucht es Offenheit, Lust auf Neues und die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen. Dies betrifft zuallererst die Leitung, aber darüber hinaus sowohl das künstlerische Personal als auch die Schauspieler:innen.

Eine Produktion, die taubes Publikum berücksichtigt und Gebärdensprache einbezieht, ist anders, als eine „normale“ Produktion. Wenn es gut läuft, wird es für alle Beteiligten zu einer Bereicherung.

12 Schritte zum Erfolg


1. Kontakte zur Deaf Community vor Ort aufbauen

Nehmen Sie Kontakt mit der Deaf Community vor Ort auf. Lassen Sie sich dabei vom Deutschen Gehörlosen-Bund (oder einer seiner Unterorganisationen), vom Aktionsbündnis Deaf Performance Now oder vom Verband der tauben GebärdensprachdolmetscherInnen beraten und unterstützen (Links s.u.). Laden Sie taube Menschen in Ihr Haus zu einem Runden Tisch zum Thema „Ich fühle mich ausgeschlossen aus der Kulturlandschaft“ ein und fragen Sie nach deren Wünschen und Vorstellungen bezüglich Inklusion und Barrierefreiheit.

2. Hausintern eine Entscheidung über das Vorgehen treffen – was darf es sein:

a) Theateraufführung mit Einbindung tauber Schauspieler:innen?

Es wird eine Produktion angestrebt, in der taube Schauspieler:innen mitwirken, bei der bereits für die Proben Mittel für Gebärdensprachdolmetschung veranschlagt werden und bei der Gebärdensprache von Anfang bis Ende ein fester Bestandteil des künstlerischen Prozesses ist.

b) Gedolmetschtes Theater mit tauben Dolmetscher:innen?

Es wird eine Produktion angestrebt, bei der im Verlaufe der Endproben oder nach abgeschlossenem Probenprozess ein Dolmetsch-Team, bestehend aus tauben und hörenden Dolmetscher:innen hinzukommt. Die hörenden Kolleg:innen befinden sich dabei vor der Bühne und dolmetschen die Texte der Schauspieler:innen sowie sonstige Geräusche und Töne, die für die Aufführung von Belang sind, für die tauben Dolmetscher:innen. Die tauben Dolmetscher:innen befinden sich auf der Bühne und gebärden den Text der Schauspieler:innen für das taube Publikum.

c) Gedolmetschtes Theater mit hörenden Dolmetscher:innen?

Es wird eine Produktion angestrebt, bei der im Verlaufe der Endproben oder nach abgeschlossenem Probenprozess ein hörendes Dolmetsch-Team hinzukommt, dass sich auf der Bühne mit den Schauspieler:innen mitbewegt und deren Texte sowie sonstige bedeutungstragende Bühnengeräusche für das taube Publikum dolmetscht.

Wenn taube Zuschauer:innen frei wählen könnten, würden sie sich vermutlich immer für a) entscheiden, weil die Identifikation mit dem Gezeigten am größten ist, wenn taube Protagonist:innen auf der Bühne agieren. Geben Sie den Träumen einer über Jahrhunderte hinweg ausgeschlossenen Zuschauergruppe Flügel! Experimentieren Sie! Lassen Sie doch z.B. mal taube Schauspieler:innen wie hörende Menschen die Lippen bewegen und die Dolmetscher:innen als Synchronsprecher:innen agieren.

Und wenn Sie sich doch zunächst nur an b) oder c) heranwagen, dann:

Haben Sie Mut und Vertrauen und erlauben Sie shadow interpreting (Schattendolmetschen)!

Beim shadow-interpreting bewegen die Dolmetscher:innen sich auf der Bühne mit den Schauspieler:innen mit, klettern ggf. auf eine Empore oder einen Turm oder hocken sich neben eine Figur, die aus einer Bodenluke herausschaut. Der Vorteil: Die tauben Zuschauer:innen, die bei mehreren Personen auf der Bühne nicht erkennen können, wer gerade spricht, behalten somit immer den Überblick über die jeweiligen Gesprächspartner:innen und Sprecher:innenwechsel.

Wichtig: Im Haus muss es von leitender Position eine klare Entscheidung für Barrierefreiheit geben, damit alle sich daraus ergebenden Aufgaben später intern seitens der Belegschaft freudig und wohlwollend angenommen werden. Handelt es sich bei der barrierefreien Inszenierung lediglich um das Projekt von freien Regisseur:innen, könnte es schwierig werden, weil dann ggf. relevante Abteilungen nicht mitziehen…

3. Eine geeignete Inszenierung auswählen

Taube Menschen sind Augenmenschen. Besonders für den Einstieg in barrierefreies Theater für taubes Publikum eignen sich farbenfrohe Inszenierungen mit opulenter Ausstattung und Details bei den Kostümen. Augenermüdung durch eine dauer-dunkle Bühne oder gleißendes Licht sollte vermieden werden.

Gut zu wissen: Bei vielen tauben Menschen handelt es sich aufgrund großer Lücken in der Bildungsbiografie und des Ausschlusses von Kultur und Gesellschaft um ein theaterunerfahrenes Publikum. Bekannte Figuren und Stoffe sowie übliche Theaterkonventionen können nicht als bekannt vorausgesetzt werden. Für diese Neueinsteiger:innen eignen sich klar strukturierte Geschichten, bei denen Bühnenbild und Requisiten das Verständnis unterstützen. Im Gegensatz zur Mehrheit der stark bildungsbenachteiligten Gehörlosen gibt es aber auch in der Deaf Community belesene und theateraffine taube und schwerhörige Menschen, die sich gern vom zeitgenössischen Theater inspirieren lassen würden (so es denn seine Tore für sie öffnete…).

4. Geeignete taube Schauspieler:innen bzw. Dolmetscher:innen suchen

Sie gewinnen taube Schauspieler:innen und theatererfahrene Dolmetscher:innen über ein deutschlandweites Casting. Lassen Sie sich ggf. schon bei der Bewerbung fürs Casting Referenzen zusenden, aus denen die Bühnenerfahrung hervorgeht. Dolmetscher:innen auf der Bühne benötigen Bühnenpräsenz, ein Gefühl für Timing, eine schnelle Orientierung im Bühnenraum sowie schauspielerisches Talent, um nicht zum Störfaktor, sondern zum Wohlfühlfaktor zu werden.

5. Eine hausinterne Schulung zur Sensibilisierung bezüglich Taubheit durchführen

Bieten Sie in Ihrem Haus Einsteigerkurse in die Welt der Tauben für Ihr Personal an der Kasse und in der Garderobe an. Eine Vermittlung von Eisbrecher-Gesten und von zielgruppenspezifischen Infos für die Mitarbeiter:innen führt zu diversity-sensiblem Verhalten und mehr Sicherheit. Wenn Ihre Mitarbeitenden verstanden haben, dass es bei dieser Zielgruppe ums Sehen geht und dass Fragen wie „Und Sie können wirklich gar nichts hören?“, „Wie ist es denn mit Lippenlesen?“ oder „Vermissen Sie keine Musik?“ absolut tabu sind, dann war es ein guter Kurs. Fragen Sie bei der lokalen oder regionalen Gebärdensprachschule danach.

6. Die tauben Schauspieler:innen / die Dolmetscher:innen in die Theaterarbeit einbinden

Wenn Sie sich für die Arbeit mit tauben Schauspieler:innen entschieden haben, sollten weite Teile des Probenprozesses durch Dolmetscher:innen begleitet werden, um eine Kommunikation auf Augenhöhe sicherzustellen.

Möchten Sie in einem ersten Schritt zunächst eine Verdolmetschung Ihrer Inszenierung anbieten, so senden Sie ein Textbuch mit allen aktuellen Streichungen und eine Videoaufnahme der Generalprobe oder einer der Aufführungen an die Dolmetscher:innen, damit diese sich gründlich vorbereiten können.

7. Zielgruppenspezifische Werbung machen

Da taube Menschen in der Regel aus den Institutionen der Hörenden ausgeschlossen sind, kommen sie nicht darauf, sich aus einem Café einen Flyer mitzunehmen oder im Internet nach dem Theaterprogramm zu suchen. Dennoch sollten die Aufführungen mit Gebärdensprache im Programmheft durch das Gebärdenhände-Symbol gekennzeichnet werden, damit vor allem die hörenden Zuschauer:innen vorab informiert sind.

Die taube Zielgruppe sollte auf einschlägigen Portalen (z. B. www.taubenschlag.de) oder in den sozialen Medien über das spezielle Angebot informiert werden.

Posten Sie auf Facebook oder Instagram ein kurzes Video mit einer Zusammenfassung des Stücks in Gebärdensprache, weisen Sie auf die Einbindung tauber Schauspieler:innen bzw. Dolmetscher:innen hin, gern auch unter Nennung der jeweiligen Namen, damit die tauben Zuschauer:innen vorab wissen, was sie erwartet.

8. Ein Kartenkontingent für taube Zuschauer:innen reservieren

Stellen Sie sicher, dass die tauben Zuschauer:innen Sitzplätze mit guter Sicht auf die Bühne erhalten. Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache, die in einem großen Haus aus der letzten Reihe nicht mehr erkannt werden kann. Reservieren Sie Plätze in den mittleren Reihen und weisen Sie die Kasse an, diese Plätze nur an taube Zuschauer:innen (ggf. Ausweisung durch Schwerbehindertenausweis) zu verkaufen.

9. Finale Vorbereitungen treffen

a)Stellen Sie bei der Einbindung tauber Schauspieler:innen sicher, dass es auf und hinter der Bühne genügende Sicherheitsvorkehrungen für Notfälle gibt (bspw. neben akustischen Warnsignalen auch optische Alarmhinweise). Überprüfen Sie, ob die Inszenierung sowohl für taube als auch hörende Zuschauer:innen ‚aufgeht‘, also ob beide Seiten die gesprochenen bzw. die gebärdeten Textanteile mit Hilfe der in Ihrem künstlerischen Konzept getroffenen Vorkehrungen verstehen können.

b)+c) Bieten Sie eine gemeinsame Probe ODER alternativ mindestens eine Bühnenbegehung für die Dolmetscher:innen an, damit diese die Auf- und Abgänge kennenlernen (Treppen, Leitern, Klappen etc…), Gefahrenmomente kennen (Drehbühne; herunterfallende Gegenstände aus dem Seilboden…). Sofern die Dolmetscher:innen nicht aus ihrem eigenen Bestand für eine der Inszenierung angemessene Garderobe sorgen können, suchen Sie aus dem Fundus passende schwarze oder dunkle einfarbige Kostüme aus. Je nach Inszenierung kann ein reizvolles, sparsam gesetztes Accessoire (Feder-Boa, Käppi, Räuber-Gürtel o.ä.) für die Dolmetscher:innen nicht schaden, um sie optisch noch besser einzubinden.

10. Ein spezielles Programmheft für taube Zuschauer:innen oder eine Einlage für ein Programmheft erstellen

Besonders dem theaterunerfahrenen Publikum hilft es sehr, zur Orientierung ein auf die speziellen Bedürfnisse zurecht geschnittenes Programmheft zu erhalten. Darin ist in Leichter  Sprache die Handlung beschrieben. Außerdem finden sich Fotos der Protagonisten (im Originalkostüm) zzgl. einer kurzen Beschreibung der Figur und ihrer Beziehung zu anderen Figuren im Stück. Daneben jeweils Fotos der für die jeweilige Figur auserkorenen Namensgebärden (in der Deaf Community erhält jede Person ein individuelles Zeichen als seine persönliche Namensgebärde. Eine solche Gebärde bekommen auch alle Figuren im Stück). So gelingt die Zuordnung der Personen und ihrer Namen während des Zuschauens leichter.

11. Eine zusätzliche Beleuchtungsprobe einplanen

Stellen Sie sicher, dass die tauben Schauspieler:innen bzw. die Dolmetscher:innen in allen Szenen sehr gut zu sehen sind, damit die Gebärdensprache vom Publikum problemlos rezipiert werden kann. Ggf. muss in dunkleren Szenen das Licht etwas aufgehellt oder ein Verfolger weiter aufgezogen werden. Lassen Sie den benötigten Lichtfaktor nicht durch unerfahrene Hörende, sondern durch die tauben oder hörenden Expert:innen bestimmen.

12. Nach der Aufführung: Evaluieren Sie das Angebot

Befragen Sie das Publikum (taub und hörend) nach der Vorstellung, wie es war. Sie können dafür kleine Umfrage-Zettel zum Ankreuzen verwenden oder ein Publikumsgespräch durchführen. Stellen Sie unbedingt Fragen wie: Hat Ihnen das Kulturerlebnis gefallen? War die Gebärdensprache gut zu verstehen? Hat sie dazu verholfen, das Stück besser zu verstehen? Haben Sie fürs nächste Mal Verbesserungsvorschläge?

Denken Sie bei einer schriftlichen Befragung unbedingt daran, kurze Sätze und Leichte Sprache zu verwenden.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihren inklusiven Projekten!

Toi, toi, toi!

Gudrun Hillert ist Dolmetscherin für Gebärdensprache. Auf der Bühne übersetzt sie in Echtzeit das Spiel der Figuren für Menschen, die nichts hören. Sie arbeit u.a. mit dem Hans Otto Theater Potsdam („SignSpots"), dem Thalia Kino Potsdam („Eine Hand voll Kino“) und dolmetscht für ZDF barrierefrei online Nachrichtensendungen und Dokumentationen. Im Bundespresseamt Berlin übersetzt sie die Regierungskommunikation der Bundesregierung. Gudrun Hillert ist unter gudrun.hillert07@gmail.com zu erreichen.

 

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